Tolle Fliegerkünste – und bitterer Hunger
April 1916. Der Erste Weltkrieg will kein Ende nehmen. Soldaten und Zivilbevölkerung leiden unter Entbehrung. Die „Neue Freie Presse“gibt gute Tipps zur alternativen Ernährung und kündigt die zwangsweise Metallsammlung an.
In unserer Erzählung über den Ersten Weltkrieg stehen wir im April des Jahres 1916. Zwei Kriegswinter liegen schon hinter den Soldaten und der Zivilbevölkerung. Für einen derart langen Krieg ist keine Vorsorge getroffen worden. Die Ressourcen gehen zur Neige. Jeder Bauer, jeder Knecht, den man im Herbst in die Uniform steckte, hat die dringend benötigte Ernte gemindert. In Wien schränkt man sich schon aufs Äußerste ein. Die Ungarn beliefern die Millionenstadt immer schleppender. Wann wird das zu Ende gehen? Und wie? Das weiß auch der alte Kaiser nicht – in seinem letzten Lebensjahr. Das weiß nicht einmal der Generalissimus Franz Conrad von Hötzendorf. Das Heft haben längst die preußischen Militärdiktatoren Hindenburg und Ludendorff in der Hand. Der Berliner Monarch ist ähnlich entmündigt wie in Wien Franz Joseph.
Trotzdem vermeldet die „Neue Freie Presse“immer wieder einzelne Heldentaten. Jene vom 5. April ist besonders kurios. In epischer Breite schildert das Blatt:
„In Beantwortung der italienischen Fliegerangriffe gegen Laibach, Adelsberg und Triest hat am Nachmittag des 3. April ein starkes Geschwader unserer Seeflugzeuge Ancona angegriffen. Der Bahnhof, der Gasometer, die Werften und das Hafenviertel wurden mit zahlreichen Bomben beworfen. Der Zerstörungserfolg war ein verheerender. Auch mehrere Brände wurden festgestellt. Gegnerische Abwehrflieger suchten unsere Aktion zu hindern, Maschinengewehrfeuer trieb sie aber rasch von dannen. Drei gut geleitete Abwehrbatterien spien Tod und Verderben gegen unsere Flugzeuge. Dicht an ih- nen platzten die Schrapnells, und eines bekam rasch nacheinander zwei Volltreffer. Es musste vor dem Hafen niedergehen. Dies sah der Fliegermeister Molnar, und ohne sich lang zu besinnen, tauchte er hinab in die Flut und nahm die Insassen des beschädigten Flugzeuges an Bord. Während zwei feindliche Zerstörer und ein Torpedoboot heransausten, vervollständigte er die Vernichtung des schwer getroffenen Apparates. Als er sich aber zum Auffliegen anschickte, vermochte er seine Absicht nicht durchzu- führen, denn eine erlittene Beschädigung machte ihm bei dem herrschenden Seegang das Aus-dem-Wasser-Gehen unmöglich. Die italienischen Fahrzeuge näherten sich mit bedenklicher Eile. Da gehen zwei andere eigene Seeflugzeuge, eines geführt von Schiffleutnant Stenta, das andere von Seekadett Bamos, nieder, erreichen das Wasser in unmittelbarer Nähe des zum Aufflug unfähigen Flugzeuges Molnars und nehmen dessen vier Insassen auf. Zwei italienische Seeflugzeuge streifen nur hundert Meter ober ihnen, werfen Bomben ab und bestreichen die Unfallstelle mit Maschinengewehrfeuer. Dennoch wird das havarierte Flugzeug verbrannt, und majestätisch heben sich die beiden Seeflugzeuge in die Lüfte. Unversehrt kehrten alle Flieger zurück, wenn auch zwei Maschinen verloren gegangen sind. Diese Einbuße verschwindet gegen die angerichteten Schäden. Diese aber wieder verschwinden gegen den moralischen Eindruck, den die heldenmütige Haltung unserer Seeflugzeugführer auf den Feind machen muss.“
Für die Leserschaft, das arrivierte Bürgertum, hat die „NFP“aber immer noch Komfortables anzubieten. „Mädchenpensionat v. Carove-Schulz, Wien XVIII, Wallriessstraße 112, Endstation 41A. Freie CottageLage, eig. Villa, individ. Erziehung, gedieg. Unterr. (ab Frühling im gr. Garten) in allen Klassen der Volks-, Bürger- und Fortbildungsschule, mod. Sprachen, Musik, Haushaltungs-, Handels- und kunstgew. Fächern. Vorzügliche Referenzen. Gesunder, schöner Ferienaufenthalt – 11692“
Wer es sich leisten kann, der spendet. Nicht für eine Hilfsorganisation, nicht für zwei, am besten für zehn: Fürsorgekomitee für die Bukowiner Flüchtlinge, Sammlung der „NFP“für im Felde erblindete Angehörige des Heeres, fürs Komitee „Tagesheimstätten für Kriegerwaisen und Kinder“, zur Anschaffung von künstlichen Gliedmaßen für Kriegsinvalide – es ist schon der 482. Spendenausweis. Sammlung zur Anschaffung von Liebesgaben für die Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien, für die ö. Gesellschaft vom Roten Kreuz, zur Errichtung einer Heilstätte für an Tuberkulose erkrankte Soldaten (patriotischer Hilfsverein), zur Schaffung von dauernden Einrichtungen im orthopädischen Spital und den Invalidenschulen des k. u. k. Reservespitals Nr. 11, . . .
Empfohlen wird in der „NFP“auch Wiesenklee als nahrhaftes und bekömmliches Gemüse. „Zubereitet wie Spinat und mit etwas Mehl, Butter und Salz aufgekocht, schmeckt Wiesenklee ähnlich wie zarte Schnittbohnen.“
Und es nahen schon die Vorboten der Metallsammlung: Ab August 1916, schreibt das Blatt warnend, drohe die zwangsweise Abnahme privater Metallbestände durch die Behörde. Die „NFP“hat einen guten Tipp im Vorfeld: Wer jetzt schon freiwillig an die Metallzentrale AG abliefere, der bekomme einen besseren Preis, sofortige Barzahlung und einen Einkaufsschein, der dann später als Beleg diene, wenn die Requirierung aktuell werden sollte. Selbst die Türklinken aus Kupfer, Messing, Rotguss oder Bronze sind davor nicht verschont.
Indes hält der „Heldentod“reiche Ernte, davon profitiert die Annoncen-Abteilung der Zeitung. So steigt in Wien der Bedarf an Trauerkleidung. Es empfiehlt sich die Wiener Theaterputzerei in der Kühfußgasse 2, die jede Art von Kleidung innerhalb von zwölf Stunden schwarz färbt.
Ebenfalls für August wird die Beschlagnahme von Gummireifen angekündigt. Davon werden in Wien viele Pferdegespanne betroffen sein, auch Einspänner, auch die Fiaker. Autoreifen befinden sich ebenfalls im Visier der Militärbehörden. Da aber die Fahrradreifen noch verschont bleiben, empfiehlt die „NFP“den wenigen Automobilisten, aufs Motorrad umzusteigen, „das notfalls mit breiteren Fahrradreifen ausgerüstet“werden könne.
In der staatlichen Münzanstalt gehen indes – unbemerkt von der Öffentlichkeit – seltsame Dinge vor sich. Es werden Millionen von Eisenmünzen hergestellt. Die sollten schon bald die Zwanzig–Heller-Stücke aus Nickel ersetzen. Sie sind mit einem Rostschutz überzogen, sodass sie grau wie Blei aussehen, aber sie sind ganz leicht. Am 1. August wird es so weit sein.