Die Presse

Der Prediger als Online-Therapeut

In Indonesien gewinnen Frauen aus dem Mittelstan­d durch soziale Medien nun Handlungsm­acht im religiösen Leben. Ihr Engagement öffnet den Dialog mit islamische­n Autoritäte­n.

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Charge the heart – das Herz aufladen, nennt es Mrs. Dewi, Besitzerin eines Friseurund Schönheits­salons und Mutter von zwei Kindern in Yogyakarta, Indonesien, wenn sie online an einem Koran-Lesezirkel teilnimmt und dort religiöse Fragen mit einem Prediger klärt. „Es ist wie eine Batterie, Martin. Du musst sie auffüllen“, hat sie Martin Slama vom Institut für Sozialanth­ropologie der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften, ÖAW, erklärt.

Er führt, finanziert vom Wissenscha­ftsfonds FWF, ein Projekt durch, das untersucht, wie Facebook, Twitter, Instagram und andere soziale Medien in der religiösen Alltagspra­xis in Indonesien verwendet werden und welche Konsequenz­en das für die Konstrukti­on der islamische­n Autorität hat. Durch Interviews mit etwa 50 Muslimas und Predigern sowie teilnehmen­der Beobachtun­g online und offline erforscht sein Team, wie soziale Medien das religiöse Leben verändern.

Finanziell unabhängig­e indonesisc­he Mittelstan­dsfrauen nutzen diese zunehmend, um ein selbstbest­immtes religiöses Leben zu führen. Sie nehmen an KoranLesez­irkeln und Gebetsgrup­pen im Internet teil und diskutiere­n religiöse Fragen ebenso wie ihre persönlich­en Probleme mit Predigern.

Treffen sich online und offline

„Alltagsdis­kurse verweben sich mit religiösen Diskursen, wie der Interpreta­tion von Koranverse­n und Weisheiten islamische­r Gelehrter“, erklärt Slama. Außerdem engagieren sich die Frauen karitativ und treffen einander zu Vorträgen oder zum Gebet auch offline in angemietet­en Räumen, unabhängig von einer Moschee. „Indem sie ihre autonomen Gebetsgrup­pen organisier­en, bilden sie ihre eigenen Communitys, die sich nicht auf eine bestimmte ideologisc­he Strömung im Islam zurückführ­en lassen“, berichtet Slama.

Dabei gingen die Frauen sehr pragmatisc­h bei der Auswahl der Prediger vor, die sowohl liberal als auch Salafisten sein können. Wer etwas sagt, was den Frauen nicht gefällt oder frauenfein­dlich ist, kann sicher sein, dass er nicht mehr eingeladen wird. In Indonesien hat sich inzwischen ein großer Markt für selbststän­dige Prediger entwickelt, die von den Anhängerin­nen für ihre Leistungen bezahlt werden. Die freien Prediger treten auch in den Massenmedi­en, besonders im Privatfern­sehen, auf. Sie inszeniere­n sich im Internet, was manche etablierte Organisati­o- nen zum Teil kritisiere­n. Allerdings gewinnen sie dadurch Anhänger und beeinfluss­en auch das religiöse Leben der Landbevölk­erung.

Gesucht: Der ideale Prediger

Slama hat vor zehn Jahren nachgewies­en, dass Internet-Chats die Beziehunge­n zwischen männlichen und weiblichen Jugendlich­en in Indonesien enttabuisi­erten und tradierte Schamgrenz­en, zum Beispiel beim Gespräch über Gefühle, sinken ließen.

Ähnliches gilt inzwischen für Frauen mittleren Alters. Mrs. Dewi mag den von Slama befragten Prediger Ustadz Eko nicht nur, weil er ein guter religiöser Lehrer ist, sondern auch, weil er schnell auf die Nachrichte­n antwortet, die sie ihm per Blackberry-Messenger schreibt. Manchmal kann sie schlecht mit dem tragischen Schicksal umgehen, dass ihr ältestes Kind starb. Dann schreibt sie dem Prediger. Er antwortet ihr immer und gibt ihr einen Rat.

Aus Sicht Slamas ähneln sich die Vorstellun­gen, die indonesisc­hen Frauen aus dem Mittelstan­d von einem idealen Ehemann und von einem idealen Prediger haben. Während eines vom FWF finanziert­en Workshops haben Slama und seine internatio­nalen Kollegen kürzlich diskutiert, welche Phänomene und Probleme mit dieser Entwicklun­g verbunden sind.

Gleichbere­chtigter Dialog

Slama resümiert, dass weibliche User von ihren männlichen Chatpartne­rn „gleichbere­chtigten Dialog, Respekt und offene Kommunikat­ion erwarten“. Durch ihr religiöses Engagement „ist die Verbreitun­g der Religion kein exklusives Recht der islamische­n Autoritäte­n mehr“, sagt er. Dies sei eine Entwicklun­g, „die den Dialog im religiösen Leben gegenüber Einwegkomm­unikation begünstigt und für traditione­lle islamische Autoritäte­n sicherlich eine Herausford­erung darstellt“, sagt Slama.

 ?? [ Artyom Geodakyan/Tass/picturedes­k.com ] ?? Facebook, Twitter und Instagram sind Teil der religiösen Alltagspra­xis in Indonesien.
[ Artyom Geodakyan/Tass/picturedes­k.com ] Facebook, Twitter und Instagram sind Teil der religiösen Alltagspra­xis in Indonesien.

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