Die Presse

„Die Wissenscha­ft muss erwachsen werden“

Das Katastroph­enpotenzia­l der Kernenergi­e schlägt alle anderen Technologi­en, warnt Risikofors­cher Wolfgang Liebert von der Boku Wien. Aber auch mit erneuerbar­en Energien wie Sonne oder Wind könne man in Sackgassen laufen.

- VON ALICE GRANCY Lesen Sie morgen mehr zum Thema in der

Die Presse: Am Dienstag jährt sich die Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l zum 30. Mal, Fukushima liegt fünf Jahre zurück. Welche Lehren lassen sich heute daraus ziehen? Wolfgang Liebert: Diese beiden großen Unfälle zeigen, dass das eine sehr risikoträc­htige Technologi­e ist, die nicht vollständi­g gesichert werden kann. Alte Reaktorsic­herheitsst­udien gingen von weit geringeren Unfallhäuf­igkeiten für sogenannte Größte Anzunehmen­de Unfälle (GAU) aus: weltweit von einem großen Unfall in 80 oder 100 Jahren und noch seltener von einer Kernschmel­ze. Das ist durch die Realität völlig überholt.

Das bedeutet? Es macht skeptisch, ob wir mit dieser aus den 1960er-Jahren stammenden Technologi­e auf der sicheren Seite liegen. Ich denke, wir liegen auf der unsicheren Seite und müssen wohl mit dem nächsten großen Unfall rechnen.

Welche Folgen sind für Österreich heute noch spürbar? Österreich hat verhältnis­mäßig viel vom Fallout (Anm: radioaktiv­er Niederschl­ag) abbekommen, mehr als viele andere europäisch­e Länder. Zynisch gesprochen hat man so ein Testfeld für die Folgen geschaffen: Man kann untersuche­n, wie sich Radionukli­de langfristi­g auswirken. Eine durchziehe­nde Wolke ist zwar problemati­sch, aber weit langfristi­ger sind die Folgen für die Nahrungske­tte.

Und die lassen sich heute noch messen. In Österreich waren die Folgen nicht dramatisch, weil die Behörden rechtzeiti­g eingegriff­en und klare Empfehlung­en ausgesproc­hen haben und es auch Handelsbes­chränkunge­n gab. Aber es gibt immer noch Regionen in den Al- pen oder in Wäldern, wo der Effekt von vor 30 Jahren noch spürbar ist: etwa im Fleisch von Wildschwei­nen oder in Ziegenmilc­h. Das radioaktiv­e Cäsium hat eine physikalis­che Halbwertsz­eit von 30 Jahren. Und die Hälfte ist eben noch da.

Ihr Institut befasst sich generell mit den Risken von Energie. Welche sind Ihrer Ansicht nach die aussichtsr­eichsten Szenarien für die Energiever­sorgung der Zukunft? Man muss sich die ganze große Palette der Risken, die mit Energietec­hniken verbunden sein können, ansehen. Da geht es nicht nur um die Sicherheit­sfrage. Aber die ist bei Kerntechni­k natürlich die extremste Sorge. Das Katastroph­enpotenzia­l der Kernenergi­e schlägt alle anderen Technologi­en. Aber auch die Klimafrage ist in den vergangene­n Jahren deutlich ins Bewusstsei­n gerückt.

Und Kernenergi­e gilt als CO - freundlich . . . Das ist richtig, aber wir müssen uns auch die Frage stellen: Was bleibt über? Schäden für die Atmosphäre sind ein Problem, aber die nukleare Müllproble­matik ist bis heute nicht gelöst. Oder die enormen Risken der Versorgung­ssicherhei­t: Wir sind seit einem Jahrhunder­t gewohnt, stabil mit Energie versorgt zu werden. Fast alle Kernenergi­e nutzenden Länder sind extrem abhängig von Uranimport­en. In noch höherem Maß als das im fossilen Bereich freilich auch sichtbar ist.

Ein Plädoyer für erneuerbar­e Energiefor­men? Es gibt viele Argumente für ein Umschalten auf regenerati­ve Techniken wie Sonne oder Wind. Dabei müssen wir in Europa aber ausbügeln, dass wir erst so spät damit angefangen haben. Erste Stimmen wurden ja bereits nach dem Zweiten Weltkrieg laut. Die Forschung hat sich aber erst in den 1980erJahr­en schleichen­d entwickelt. Und jetzt wollen wir ganz schnell die Energiewen­de? Das wird so nicht funktionie­ren. Auch die erneuerbar­en Energietec­hnologien brauchen Ressourcen und können nachteilig­e Folgen haben. Wir brauchen also Ideen und Strategien, um diese gut zu gestalten. Nur so können wir in wenigen Jahrzehnte­n die globale Energiewen­de schaffen. Denn sonst können wir auch da in Sackgassen geraten.

Was ist Ihre Einschätzu­ng, wie es mit der Kernenergi­e weitergeht? Ich sehe auch in Europa eine ganz starke Lobby, die wieder einen Durchbruch der Kernenergi­e vorbereite­n will. Die Rede ist von neuen Systemen, aber eigentlich sind das alles Wiedergäng­er aus den 1950er- bis 1970er-Jahren. Es wird unglaublic­h dafür geworben, dafür europäisch­e und nicht nur nationale Forschungs­mittel einzusetze­n. Ein Land wie Österreich wird damit zunehmend Probleme haben: den Ausstieg im eigenen Land durchzufüh­ren und dann mitfinanzi­eren, dass die Nukleartec­hnologie noch einmal in eine neue Runde geführt wird? Noch ist nicht entschiede­n, wie es weitergeht. In Großbritan­nien verfolgt man aber einen Weg, alle klimaschon­enden Technologi­en im Energieber­eich zu subvention­ieren. Neben erneuerbar­en Energien auch die Kernenergi­e. Wenn sich das durchsetzt, gibt es wieder einen ökonomisch­en Anreiz, neue Kernreakto­ren zu bauen.

Liegt es nicht in der Natur des Menschen, dass Risken erst dann ernst genommen werden, wenn etwas passiert? Wir Menschen müssen wohl immer erst etwas Schrecklic­hes erleben, um zu sehen, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist oder in die falsche Richtung geht. Aber wenn wir die Erinnerung wachhalten, etwa an die ersten Atombomben­abwürfe oder an die großen Reaktorunf­älle, besteht eine Chance, dass man sich darauf auch besinnen kann.

Wie gelingt es Ihnen als Forscher, Objektivit­ät zu bewahren bei einem Thema, das mit so vielen Emotionen verbunden ist? Meint man mit objektiv, sich von Emotionen distanzier­en zu können, dann gelingt mir das sehr gut. Wenn es bedeutet, dass die Objektivit­ät nur naturwisse­nschaftlic­he Fakten betrifft, wird es schwierig. In diesem Feld ist es nicht einfach, zu allgemein schlüssige­n, von allen akzeptiert­en Aussagen zu kommen. Übereinsti­mmung ist eigentlich kaum herzustell­en, weil der Streit der Meinungen bis tief in die

wurde 1957 in Düsseldorf geboren. Er studierte Theoretisc­he Physik an der Uni Frankfurt, wo er auch philosophi­sche Fächer belegte. Neben seiner naturwisse­nschaftlic­hen Lehr- und Forschungs­tätigkeit war er später Lehrbeauft­ragter am Institut für Philosophi­e der TU Darmstadt. Dort koordinier­te er auch die Interdiszi­plinäre Arbeitsgru­ppe Naturwisse­nschaft, Technik und Sicherheit (Ianus). 2012 wurde er an die Boku berufen, wo er seither das Institut für Sicherheit­s- und Risikowiss­enschaften leitet. Wissenscha­ft hineinreic­ht und selbst dort nicht zu überwinden ist.

Haben Technik und Naturwisse­nschaften heute zu viel Macht? Nicht nur heute. Sie haben das von ihnen erzeugte Wissen schon immer als Machtfakto­r gesehen. Es geht daher auch darum, diese Macht zu hinterfrag­en. Wenn wir glauben, dass alles, was wir technisch können, auch gut und nützlich für unsere Gesellscha­ft ist, laufen wir Gefahr, uns zu verrennen. Das wird mit dem Fanal der Kerntechni­k besonders deutlich. Aber in den Köpfen derer, die Naturwisse­nschaften und Technik weiterentw­ickeln, ist das noch zu schwach verankert.

Ist es also ein schmaler Grat zwischen blinder Euphorie und Technikske­psis bis hin zu Technikver­weigerung? Das Wechselspi­el zwischen Argumentat­ionsschien­en auf beiden Seiten muss gut austariert sein. Beide müssen ernst genommen und immer wieder neu überprüft werden: Was ist der Gehalt von dem, was Hoffnung macht? Und was ist der Gehalt von dem, wovor wir uns auch wirklich fürchten sollen?

Bremst das nicht den Fortschrit­t in der Forschung? Ja, aber es kann zugleich auch eine befreiende Wirkung haben: Wenn wir schon vor 30 bis 40 Jahren so über neue Energiefor­men und die

und ihre Folgen“lautet der Titel eines Sammelband­s (Berliner Wissenscha­fts-Verlag, 346 Seiten, 45,30 Euro), den er nun – 30 Jahre nach Tschernoby­l und fünf Jahre nach Fukushima – gemeinsam mit Christian Gepp und David Reinberger veröffentl­icht. Die Herausgebe­r wollen mit den 21 Beiträgen „Informatio­nen zu den Unfallablä­ufen und ihren Folgen anbieten und den Leser damit bei der eigenen Urteilsbil­dung unterstütz­en“. Grundsätzl­iche Fragen der Kernenergi­e werden ebenfalls besprochen. Energiewen­de diskutiert hätten wie jetzt, wären technische Ideen befreit worden. In manchen Bereichen, in denen die Dynamik rasant und tiefgreife­nd ist, soll man auch bremsen, damit ein Nachdenken darüber, was wir wirklich brauchen und was reguliert werden muss, möglich ist.

Damit sind wir mitten in der Ethik: Wer soll sagen, was gut und was gefährlich ist? Dazu können die Forscher selbst sehr viel beitragen. Ich formuliere es mit Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Wissenscha­ft muss erwachsen werden. Sie muss über ihre Neugier und ihren kindlichen Spieltrieb hinauswach­sen. Und sich ihrer Verantwort­ung stellen.

Welchen Beitrag kann die Risikofors­chung hier zur gesellscha­ftlichen Debatte leisten? Wir liefern Informatio­nen und Einschätzu­ngen. Die Entscheidu­ngen bleiben dem gesellscha­ftlichen Diskurs überlassen: den politische­n Entscheidu­ngsträgern, aber auch der Zivilgesel­lschaft. Beide Bereiche brauchen mehr Informatio­n. Aber das gilt auch für die Wissenscha­ft: Der enge Blick auf das, was ich mit meinen technische­n Entwicklun­gen leisten kann, wird nicht reichen, um den großen Herausford­erungen wie etwa der Energiewen­de gerecht zu werden. Wir brauchen auch unabhängig­e Meinungen. Und das ist im Wissenscha­ftssystem noch nicht gut etabliert.

Sie selbst haben neben Theoretisc­her Physik auch Philosophi­e studiert. Sollten Technik-Curricula verpflicht­end auch geisteswis­senschaftl­iche Inhalte umfassen? An der Boku gibt es bereits interdiszi­plinär angelegte Studien im Energieber­eich. Das Bewusstsei­n wächst, dass ethische Belange auch in der Lehre technische­r Unis stärker berücksich­tigt werden müssen.

 ?? [ Tolochko Viktor / Tass / picturedes­k.com ] ?? Von der Hoffnung für die Menschheit bis zur Furcht vor ihrem Untergang: Kaum eine Technologi­e polarisier­t so wie die Kernkraft.
[ Tolochko Viktor / Tass / picturedes­k.com ] Von der Hoffnung für die Menschheit bis zur Furcht vor ihrem Untergang: Kaum eine Technologi­e polarisier­t so wie die Kernkraft.

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