Warum ich ganz verworren bin
Bitte, so A zu B, sei so nett und sag mir einmal schnell die Stammformen des Zeitworts winken. – B: Warum? – A: Ach, nur so. Mir zuliebe. Ein Test, wenn du so willst. – B: Na gut. Also . . . winken, winkte . . . – A: Und? Weiter! – B: Jaaa, eigentlich müsste jetzt gewinkt kommen, aber meistens liest oder hört man doch eher gewunken. Oder? – A: Und? Ist das falsch? – B: Weiß nicht, lass mich nachdenken; winken/winkte/gewunken. Klingt irgendwie . . . ja, falsch eben. Man sagt ja auch nicht sinken/sinkte/gesunken, sondern sinken/sank/gesunken, also müsste es konsequenterweise heißen: Winken/wank/ gewunken. Aber das ist ja noch falscher! – A: Du sagst es. – B: „Der alte Mann wank mir zu, dann wankte er und sinkte anschließend zu Boden.“Jetzt hast du mich völlig verwirrt! – A: Das war meine Absicht.
Ich gebe es zu: Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich am liebsten mit dem Rotstift über eine Tageszeitung drübergehen, sämtliche Fehler und Ungenauigkeiten anstreichen und anschließend dieses papierene „Schlachtfeld“an die Redaktion schicken würde. Aber dann lasse ich es doch bleiben; ich will ja nicht zu den Nörglern und Besserwissern gehören. Außerdem hat „Die Presse“dankenswerterweise ohnehin den Kollegen W., der das in seiner wöchentlichen Blattkritik viel eleganter macht als ich es je könnte. Jedenfalls frage ich mich manchmal, durchaus selbstkritisch, woher diese Manie wohl kommen mag, die mich antreibt, an sprachlichen Schlampereien und Fehlern Anstoß zu nehmen, ja geradezu darunter zu leiden.
Hat es etwas mit meiner Kindheit zu tun? In meinem bildungsbürgerlichen Heim befand sich eine umfangreiche Bibliothek, mit jeweils einem halben Meter Schiller, Goethe, Grillparzer, Nestroy, Stifter . . . Und ich habe sie – fast – alle gelesen! Wobei mich damals weniger die Sprache interessierte, mich interessierten eher die Geschichten und deren Ausgang. Am liebsten war mir Nestroy, denn der war lustig, und es gab immer ein Happy End.
Natürlich hatten wir auch viele zeitgenössische Autoren. Wenn meine Mutter bemerkte, dass ich eines dieser Bücher in Arbeit hatte, nahm sie es kurz in die Hand, schlug es auf, knickte ein paar Seiten ein und sagte: „Das musst du überblättern; das ist nichts für dich!“Es handelte sich dabei um die erotischen Szenen, wie ich heute weiß. Aber damals habe ich meiner Mutter gehorcht und diese Stellen tatsächlich nicht gelesen! Braves Kind!
Andererseits – meine Großmutter hatte eine Vorliebe für illustrierte Journale aus der Welt des Films, der Schönen, Reichen und Berühmten. Ja, das gab es damals, in den Fünfzigerjahren, auch schon, gewissermaßen gedruckte „Seitenblicke“in Schwarz-Weiß, auf billigem Papier. „Funk und Film“hieß eines dieser Erzeugnisse; es war wohl eine Art Vorläufer unserer heutigen Programm- zeitschriften und völlig harmlos. Und auch das las ich, heimlich in der Wohnung meiner Großmutter, mit Begeisterung und gleichzeitig mit schlechtem Gewissen, denn für meine bildungsbürgerliche Mutter firmierte das alles unter „Schmutz und Schund“.
Das Kino in meiner kleinen Heimatstadt war für mich ein Ort der Aufregung und des Glücks; die Schauspieler betete ich an, und als es mir einmal gelang, eine Autogrammkarte von Ruth Leuwerik zu ergattern, war die Seligkeit groß. Auch der Wunsch, in diesem Genre irgendwann beruflich tätig zu sein, nahm damals schon Gestalt an, aber ich hatte keine Ahnung, was man da werden konnte. Ich kannte nur die Stimmen und Namen der Sprecher (den Begriff „Moderator“gab es noch nicht) unseres Regionalsenders, also schrieb ich einem von ihnen und fragte an, was man tun müsse, um Rundfunksprecherin zu werden. Dass ich später tatsächlich in der Medienbranche gelandet bin, finde ich daher – rückblickend – durchaus konsequent . . .
Ich merke, dass ich vom Thema abkomme. Was war es doch gleich? Ach ja, meine
QLeidenschaft für Sprache, die manchmal – siehe oben – durchaus rechthaberische und besserwisserische Züge annehmen kann. Es hätte sich also folgerichtig ein Studium der Germanistik und anschließend eine wenig aufregende Berufslaufbahn als Gymnasiallehrerin angeboten.
Was man mit einem Germanistikstudium sonst noch anfangen könnte, wusste ich nicht, denn die damalige Berufsberatung an meinem Waldviertler Realgymnasium war eher dürftig. Lehrerin zu werden war allerdings ein ziemlich schrecklicher Gedanke für mich, denn ich mochte die Schule nicht. Und die Lehrer mochte ich auch nicht. Bei den meisten von ihnen konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie uns Schüler als ihre Gegner empfanden, die es zu bezwingen oder zumindest in Schach zu halten galt – sicher nicht ganz zu Unrecht, denn wir empfanden die Lehrer ja auch als Gegner.
Von Zeit zu Zeit kommen meine ehemaligen Schulkollegen – wir waren 18 Burschen und sechs Mädchen – auf die Idee, ein Klassentreffen zu veranstalten. Man versammelt sich im Extrazimmer eines Wiener Beisels und stellt zunächst bedauernd fest, dass wir immer weniger werden. Verstorben, ausgewandert, an einem Wiedersehen nicht interessiert . . . Ungefähr beim zweiten Bier und nachdem die aktuellen Informationen über Familienstand, Gesundheit et cetera ausgetauscht sind, landet das Gespräch unweigerlich bei der gemeinsamen schulischen Vergangenheit. Es fallen Begriffe wie „Desaster“oder „Kampfplatz Schule“, und unsere damaligen Lehrer müssen sich rückblickend Zuschreibungen gefallen lassen wie „neurotisch“, „spießig“, „langweilig“oder auch „überfordert“. Nachdem wir uns beim jüngsten Treffen wieder einmal so richtig ausgeschleimt hatten, sagte einer meiner ehemaligen Mitschüler nach kurzer Nachdenkpause: „Schon erstaunlich, dass aus uns allen trotzdem etwas Brauchbares geworden ist.“Also was jetzt: trotzdem oder deswegen? Beides mag zutreffen. Schule fürs Leben, da dürfte etwas dran sein. Aber man muss erwachsen geworden sein, um zu dieser Einschätzung zu gelangen.
Ich merke schon wieder, dass ich nicht nur vom Thema ab-, sondern vom Hundertsten ins Tausendste komme. Dabei wollte ich mich doch nur über das unsägliche Wort „gewunken“alterieren. Und was ist daraus geworden? Ein Exkurs in meine Kindheit und Jugend. Also Schluss jetzt! Zur Entspannung drehe ich das Radio auf, es läuft das „Abendjournal“, und was höre ich da? Einer unserer Politiker hat sich – Originalton Interview – für sein Ressort etwas „gewunschen“! Ich war gerührt und denkte mir, hoffentlich gang sein Wunsch in Erfüllung, anschließend gießte ich mir ein Glas Wein ein, das ich in einem Zug austrunkte. Was soll ich Ihnen sagen? Es hat mir wirklich sehr geschmackt! Oder geschmocken? Ich bin schon ganz verworren . . .