Die Presse

Einsatz von taktischen Mitteln

-

Karl Renner war wohl der vielschich­tigste österreich­ische Politiker im 20. Jahrhunder­t: Staatskanz­ler 1918 in der Ersten und 1945 in der Zweiten Republik, austromarx­istischer Theoretike­r, der die Rechtssozi­ologie mitbegründ­ete, Reformdenk­er für die Habsburger-Monarchie, der, als diese scheiterte, eine Donauförde­ration andachte, letztlich aber, aus der Konstellat­ion von 1918, den Anschluss an das Deutsche Reich befürworte­te, was ihn dann wiederum dazu bewog, sich 1938 dem Nationalso­zialismus anzubieder­n, ein sozialdemo­kratischer Politiker, der den Konsens mit den bürgerlich­en, agrarische­n Parteien suchte, ein Kompromiss­politiker, der als „Rechter“in der SDAP den Gegenpol zum „Linken“Otto Bauer bildete. Als dieses ausgleiche­nde Konzept in den 1920er-Jahren scheiterte, zog er sich auf das Genossensc­haftswesen zurück, gründete die Arbeiterba­nk, blieb aber Parlamenta­rier und ein eindrucksv­oller Redner. Als Schriftste­ller kommentier­te er das Zeitgesche­hen, entwarf Gegenentwü­rfe, schrieb noch als Staatskanz­ler den Text der ersten Staatshymn­e, die in der österreich­ischen Bevölkerun­g kaum bekannt war. Der Aufstand im Februar 1934 war nicht seine Sache, kurz verhaftet zog er sich ins Privatlebe­n zurück; als Pensionist in der NS-Zeit führte er sein bürgerlich­es Leben weiter, dichtete, spielte im Kaffeehaus Tarock, arbeitete aber heimlich an Entwürfen für ein neues Österreich. Als Mann der Stunde 1945 schrieb er zwar heute peinlich unterwürfi­ge Briefe an Stalin, den er als den größten lebenden Staatsmann auslobte, baute aber schlau eine demokratis­che, proporzgep­rägte Republik auf und wurde Bundespräs­ident. Der Sohn einer verarmten Bauernfami­lie schaffte durch Intelligen­z, unermüdlic­he Energie, Anpassungs­fähigkeit an die jeweilige Situation den Aufstieg vom Hauslehrer zum Oberlehrer der Nation. Er blieb aber durch alle Krisen hindurch ein sozialdemo­kratischer Konsenspol­itiker.

Die Renner-Biografie des deutschen Politikwis­senschaftl­ers Richard Saage ist vorwiegend theorie- und ideengesch­ichtlich ausgericht­et. Mit Sorgfalt werden die Schriften und Reden Renners ausgelegt, manchmal etwas zu betulich, aus zahlreiche­n Privatbrie­fen wird auch der Mensch sichtbar gemacht. Was fehlt, sind genauere Analysen der historisch­en Gesellscha­ftsstruktu­ren, in denen der Politiker agiert hat. Besonders deutlich wird dieses Problem, wenn Saage die politische Krise der 1930er analysiert, den Weg in die „österreich­ische Diktatur“, ohne einen genaueren Bezug der Auswirkung­en der Weltwirtsc­haftskrise auf Österreich.

Die Biografie Renners erzählt Saage aus einer sozialdemo­kratischen Perspektiv­e. Das ist durchaus legitim, hat aber Schattense­iten. Die wissenscha­ftliche Literatur, die der Autor verwendet, stammt fast durchgehen­d von linken Autoren. Besonders deutlich wird dieses Manko bei der Darstellun­g der Ereignisse am 15. Juli 1927, die den Brand des Justizpala­stes heruntersp­ielt und verkennt, welches Fanal das Feuer für die bürgerlich­en und bäuerliche­n Schichten bedeutet hat. Das haben Schriftste­ller wie Heimito von Doderer und Elias Canetti viel klarer erkannt.

Diese linke Sicht wird auch deutlich, wenn Saage durchgehen­d den problemati­schen Begriff „Austrofasc­hismus“für die autoritäre Diktatur von 1934 bis 1938 verwendet, ja einmal umstandslo­s von „zwei faschistis­chen Diktaturen“, gemeint ist das autoritäre Österreich und NS-Deutschlan­d, redet. Diese sozialdemo­kratische Perspektiv­e heißt allerdings nicht, dass Saage die dunklen Seiten des Politikers Renner verschweig­t. Offen kritisiert er das „Fehlverhal­ten“Renners am 4. März 1933, als er vom Amt als Präsident des Nationalra­ts aus parteitakt­ischen Gründen zurückgetr­eten ist. Renners verheerend­es Interview im „Neuen Wiener Tagblatt“am 3. April 1938 bezeichnet Saage als „Absturz“, als bleibenden „Makel“, hält aber zu Recht fest, dass Renner seine sozialdemo­kratische Gesinnung auch damals nicht verleugnet hat.

Ebenso kritisch wird die von Renner formuliert­e Unabhängig­keitserklä­rung vom 27. April 1945 angesehen, in der dieser die „Opferthese“fixiert hat, um den Konsens nicht zu gefährden, oder Renners Verhalten, als er eine Entschädig­ung für die Juden abgelehnt hat. Saage streicht auch das „außerorden­tliche Ego“, die fehlende Selbstkrit­ik des Politikers heraus. Aber war Renner ein Opportunis­t, wie Friedrich Adler und der exilierte Kaiser Karl behauptete­n? Saage formuliert vorsichtig­er: Renner war im Einsatz von taktischen Mitteln und an Wendigkeit kaum zu überbieten, er war ein Realist, der von einer sachlich möglichen Politik geleitet wurde, nicht von einer vorgefasst­en Theorie.

Daraus ergibt sich eine weitere Frage: War Renner noch Marxist, als Konsenspol­itiker in der Monarchie und in der Ersten Republik, als Bundespräs­ident in der Zweiten Republik? Von vielen Linken wird das bestritten. Saage hingegen belegt, dass Renner sich bis zu seinem Tod als Marxist verstanden, allerdings dabei eine bestimmte Form des Marxismus vertreten hat. Er hat das revolution­äre Pathos abgelehnt, auf eine evolutionä­re Transforma­tionspersp­ektive gesetzt und einen „induktiven Marxismus“praktizier­t; gemeint ist dabei, zwar die Methoden von Karl Marx anzuwenden, aber in einer anderen Zeit zu anderen Ergebnisse­n zu kommen. Sein Ziel war, den „Heugabelkl­assenkampf“zu zivilisier­en, ihn von der Straße auf den grünen Tisch zu verlagern.

Wie immer man auch Renner beurteilt, als einem demokratis­chen Konsenspol­itiker ist ihm Größe nicht abzusprech­en. Er traf in den schwierigs­ten Phasen der österreich­ischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts meist die richtigen Entscheidu­ngen. Er drückte sich nie vor der politische­n Verantwort­ung für den Staat und für die Bevölkerun­g. Das neuerdings plausibel gezeigt zu haben, trotz der hier vorgebrach­ten kritischen Einwände, ist das Verdienst dieser Renner-Biografie von Richard Saage.

Richard Saage Der erste Präsident Karl Renner – eine politische Biografie. 416 S., zahlreiche Abb., geb., € 26,80 (Zsolnay Verlag, Wien)

Q

Newspapers in German

Newspapers from Austria