Die Presse

Angst vor dem Brexit

Großbritan­nien. Das britische Referendum paralysier­t die europäisch­e Wirtschaft und Politik. Investitio­nen und politische Entscheidu­ngen werden zurückgeha­lten.

- VON WOLFGANG BÖHM

Brüssel. Es ist nicht nur Theaterdon­ner: Knapp vier Wochen vor dem Referendum über einen Verbleib Großbritan­niens in der EU werden wirtschaft­liche und politische Auswirkung­en eines möglichen Austritts der Briten (Brexit) real spürbar. Investitio­nen gehen zurück. Die EU ist angesichts der Unsicherhe­it, ob ihr ein wichtiges Mitglied abhandenko­mmt, politisch paralysier­t.

Da sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen abzeichnet, bereiten sich Großbritan­niens Partner auf einen möglichen negativen Ausgang vor. Die Gruppe der größten Industrien­ationen (G7), der Rat der EU und die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) entwickeln bereits Krisenszen­arien. „Ein Austritt aus der EU würde den Trend zu mehr globalem Handel und zu Investitio­nen und der damit verbundene­n Schaffung von Arbeitsplä­tzen umkehren und wäre deshalb ein weiteres ernsthafte­s Risiko für das Wachstum“, hieß es in der am Freitag verabschie­deten Erklärung des G7-Gipfels in Japan. „Wirtschaft­lich wäre ein Brexit eine schlechte Nachricht“, bestätigte Frankreich­s Staatspräs­ident, Francois¸ Hollande, in Ise-Shima. „Aber nicht nur für Großbritan­nien selbst, sondern auch für den Rest der Welt.“Der britische Finanzmini­ster, George Osborne, rechnet unter anderem mit einer Erschütter­ung auf den Finanzmärk­ten. Internatio­nale Industrieu­nternehmen wie Siemens kündigten bereits an, dass ein Nein der Briten Einfluss auf künftige Investitio­nen haben könnte. Der Münchner Konzern beschäftig­t derzeit 14.000 Mitarbeite­r in Großbritan­nien. Aus Angst vor einem Nein sanken in den vergangene­n zwölf Monaten erstmals seit Jahren die Unternehme­nsinvestit­ionen in Großbritan­nien. Es sind vor allem internatio­nale Konzerne, die abwarten.

In Brüssel wurde im Kreis von Vertretern der Mitgliedst­aaten bereits über die unmittelba­ren Folgen eines Austritts der Briten diskutiert. Währungsex­perten rechnen damit, dass ein Brexit das Pfund vorübergeh­end unter Druck setzen wird. Dies würde nicht nur Importe nach Großbritan­nien verteuern, sondern auch Unternehme­n aus anderen EU-Staaten betreffen, die sich auf der Insel engagiert haben. Sie müssten einen Teil ihrer Gewinne abschreibe­n.

„Handeln derzeit nicht ohne Not“

Weil im Binnenmark­t alle Mitgliedst­aaten voneinande­r abhängig sind, lähmt das Referendum bereits jetzt die gemeinsame Wirtschaft und die gemeinsame Politik. So hält sich die EU-Kommission seit Wochen mit Vorschläge­n für neue Rechtsakte zurück und wartet bei heiklen Entscheidu­ngen ab. Beispielsw­eise wurde die Veröffentl­ichung einer globalen Strategie für die europäisch­e Außenpolit­ik verschoben. Offiziell heißt es, weil ein Brexit die Spielstein­e dieser Strategie neu ordnen würde. Inoffiziel­l wird aber darauf verwiesen, dass die Strategie unter anderem neue Schritte zu einer immer engeren Kooperatio­n der Diplomatie und des Militärs enthalten soll – zwei heikle Themen für das integratio­nsfeindlic­he London.

„Wir handeln derzeit nicht ohne Not“, drückt dies ein hoher EU-Beamter im Gespräch mit der „Presse“vorsichtig aus. Als etwa in Brüssel ein neues Mobilitäts­paket für Arbeitnehm­er präsentier­t wurde, fehlten die vorbereite­ten sozialrech­tlichen Vorschläge. Der Grund: Großbritan­nien ist bei allen Fra- gen rund um eine gemeinsame­n Sozialpoli­tik extrem sensibel.

Die EU-Kommission hat sich für die letzten Wochen vor dem Referendum einen Maulkorb verordnet. Das britische Referendum wird nicht kommentier­t. Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker soll seine 27 Kommissare zudem aufgeforde­rt haben, vorerst nicht auf die britische Insel zu reisen. Auch Juncker selbst, der normalerwe­ise jede kleine Entwicklun­g in den Mitgliedst­aaten kommentier­t, hält sich auffällig zurück.

 ?? [ EPA ] ?? Großbritan­niens Premier, David Cameron, wirbt für einen Verbleib seines Landes in der EU. In Japan erhielt er am Freitag Rückendeck­ung seiner G7-Partner.
[ EPA ] Großbritan­niens Premier, David Cameron, wirbt für einen Verbleib seines Landes in der EU. In Japan erhielt er am Freitag Rückendeck­ung seiner G7-Partner.

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