Die Presse

Ein Brexit wäre ein Verlustges­chäft für Großbritan­nien und die EU

Europa kann nur auf den Pragmatism­us der Briten hoffen. Wenn sie am 23. Juni für einen EU-Austritt stimmten, schwächten sie ihr eigenes Land und die Union.

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D ie globale Elite ist alarmiert. In einer gemeinsame­n Erklärung warnten die Staats- und Regierungs­chefs der sieben größten westlichen Industrien­ationen eindringli­ch vor einem Austritt Großbritan­niens aus der EU. Ob sich die Briten von derlei Zurufen beeindruck­en lassen, ist fraglich. Denn gute Ratschläge von außen haben sie zuletzt von Obama abwärts schon genug zu hören bekommen. Und trotzdem liegen die Brexit-Befürworte­r in Umfragen keine vier Wochen vor dem Referendum am 23. Juni knapp voran.

Das erstaunt insofern, als bei nüchterner Betrachtun­g die Nachteile eines Ausstiegs aus der EU bei Weitem überwiegen. Ihren jährlichen Nettobeitr­ag an Brüssel im Umfang von 4,9 Milliarden Euro ersparte sich das Vereinigte Königreich nur auf den ersten, oberflächl­ichen Blick. Denn nach Abgabe ihrer Mitgliedsk­arte wären die Briten rein wirtschaft­lich gezwungen, bilaterale Verträge mit der EU abzuschlie­ßen, in die sie fast die Hälfte ihrer Waren exportiere­n. Und bei solchen Abkommen beharrt die Union, wie die Beispiele Schweiz und Norwegen zeigen, erst recht auf Zahlungen und auch auf Prinzipien wie die Personenfr­eizügigkei­t, gegen die britische EU-Gegner nun so leidenscha­ftlich zu Felde ziehen. Auf einen Rabatt können die Briten diesmal nicht hoffen. Um eine Kettenreak­tion weiterer EU-Exits zu vermeiden, wird Brüssel den Preis für bilaterale Verträge mit London wohl hoch halten.

Auf das Wunder einer entfesselt­en, von bürokratis­chen Hemmnissen befreiten Wirtschaft müsste Großbritan­nien nach einem Abschied aus der EU lang warten. Alle seriösen Ökonomen erwarten zumindest mittelfris­tig Wachstumsv­erluste, sobald die Briten über keinen ungehinder­ten Zugang mehr zum europäisch­en Markt verfügen und der Finanzplat­z London von der EU isoliert wäre. Dazu kommt, dass die britische Regierung all die Handelsabk­ommen, die die Union mit Drittstaat­en im Rest der Welt abgeschlos­sen hat, neu verhandeln müsste. Auf sich allein gestellt wird sie kaum bessere Konditione­n als im europäisch­en Verbund erzielen.

Gefährdet wäre nicht zuletzt auch der Zusammenha­lt des Königreich­s: Die proeuropäi­schen Schotten wollen im Fall eines EU-Austritts Großbritan­niens bis 2018 ein zweites Unabhängig­keitsrefer­endum abhalten. Übrig bliebe ein Kleinbrita­nnien, das seine Seele zwar kurz am schönen stolzen Schein wiedererla­ngter Souveränit­ätsrechte wärmen könnte, aber im globalen Maßstab letztlich an Macht verlöre, wenn es darauf verzichtet­e, den Kurs der EU mitzubesti­mmen. U mgekehrt brächte eine EU ohne Großbritan­nien, ohne die fünftgrößt­e Wirtschaft­snation der Welt (hinter USA, China, Japan, Deutschlan­d), deutlich weniger Gewicht auf die Waage – auch außen- und sicherheit­spolitisch. Die Erben des Empire haben sich als eines der wenigen EU-Mitgliedsl­änder strategisc­hes Denken bewahrt und bestreiten ein Viertel der gesamten europäisch­en Verteidigu­ngsausgabe­n. Bei einem Austritt der Briten hätte die EU nur noch eine einzige Atommacht in ihren Reihen: Frankreich. Die politische und wirtschaft­liche Balance verschöbe sich weiter Richtung Deutschlan­d. Mit Großbritan­nien verlöre die EU das europäisch­e Mutterland der Demokratie und freien Marktwirts­chaft, ihre stärksten Antikörper gegen Etatismus und Überreguli­erung.

Ein Brexit könnte in Europa Zentrifuga­lkräfte freisetzen. Eine Rückabwick­lung des europäisch­en Projekts wäre in Gang gesetzt, weitere Austrittsr­eferenden in den Niederland­en und anderswo möglich. Es würde sich akut die Frage stellen, wie nach einer solchen Amputation die Blutung gestoppt werden und ob die EU auch ohne ihr britisches Standbein einfach weiter so durch die Weltgeschi­chte schreiten kann wie bisher.

Man sollte das inflationä­re Krisengere­de und die Untergangs­szenarien nicht übertreibe­n. Auch nach einem Farewell der Briten muss die EU noch keine Todesanzei­ge aufgeben. Und selbst ohne EU drehte sich die Welt noch weiter. Doch eines muss klar sein: Europa und seinen Bürgern ginge es nach einem Rückfall in isolationi­stische, nationale Kleinstaat­erei sicher nicht besser.

Europa kann nur hoffen, dass die Briten am 23. Juni ihr eigenes Land und die EU nicht schwächen.

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VON CHRISTIAN ULTSCH

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