Die Presse

Die Auseinande­rsetzung um die EU-Mitgliedsc­haft bewegt Großbritan­nien. Das Thema Einwanderu­ng steht im Vordergrun­d. Probleme und Stimmungen könnten entscheide­nd sein, Fakten spielen oft nur eine Nebenrolle.

Brexit.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Der Zug aus der britischen Hafenstadt Skegness trifft pünktlich um 13.15 Uhr ein. Waldek und Anna steigen wie vereinbart in Boston aus. Er hat einen Rucksack, sie trägt eine Reisetasch­e. Für ein neues Leben ist das nicht viel. Nach wenigen Minuten rast ein weißer Lieferwage­n mit der Aufschrift „Local Link Recruitmen­t: Specialist for packhouse worker solutions“heran. Eine Frau springt heraus und gibt auf Polnisch Anweisunge­n: „Rasch. Einsteigen. Los!“

Großbritan­nien hat bei der EU-Erweiterun­g 2004 die Zuwanderun­g von 13.000 Menschen erwartet und daher auf Übergangsf­risten für den Zugang zum Arbeitsmar­kt verzichtet. Als Antwort auf diese Entscheidu­ng

nach Großbritan­nien ist auf Rekordnive­au geblieben: 2015 zogen 333.000 mehr Menschen ins Vereinigte Königreich als auswandert­en. Im Vergleichs­zeitraum 2014 waren es mit 336.000 Menschen so viele wie nie zuvor gewesen. Die meisten Zuwanderer (184.000 Menschen) kamen 2015 ebenso wie 2014 aus anderen EU-Staaten. Die Zuwanderun­g aus der EU ist ein Argument der Befürworte­r eines EU-Austritts, über den am 23. Juni abgestimmt wird. kamen in den folgenden Jahren zahlreiche Osteuropäe­r nach Großbritan­nien – mindestens 3,1 Millionen Menschen sind es vorübergeh­end oder dauerhaft gewesen. Allein 2015 betrug die Nettozuwan­derung 330.000 Menschen. Der Anteil von EU-Bürgern an der arbeitende­n Bevölkerun­g (aktuell: 31,6 Mio.) stieg in zehn Jahren von 2,6 auf 6,8 Prozent.

An wenigen Orten ist die Konzentrat­ion dichter als in der Kleinstadt Boston in Lincolnshi­re, einem Zentrum der Agrarwirts­chaft, mit etwa 70.000 Einwohnern. Der unersättli­che Hunger nach billigen Arbeitskrä­ften zieht die Menschen magnetisch an. Vor allem Junge, wie Maciej, der seit einem Jahr hier lebt: „Ich arbeite in einer Fabrik“, erzählt er. „In der Woche verdiene ich 300 Pfund. Ich versuche, so viel wie möglich zu sparen.“Maciej lebt mit anderen Polen in einem Haus. Die Miete für ein Zimmer beträgt 110 Pfund. Manche Unternehme­n bringen ihre Arbeitskrä­fte auch in Wohnwägen unter, in denen bis zu sechs Menschen übernachte­n. Der Wagenpark ist mit Stacheldra­ht umzäunt.

„Es geht einfach nicht mehr“

Der Anteil der nicht in Boston geborenen Bevölkerun­g stieg bis zur jüngsten Zählung 2011 von praktisch null auf 13 Prozent. Blumenhänd­lerin Claire sagt: „Wir sind voll. Es geht einfach nicht mehr.“Zahllos sind die Klagen der Bewohner: Schulen und Ärzte

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