Unsere letzte Chance“
seien überfordert, der Wohnraum nicht ausreichend, die Kriminalität steige stark. „Wir hatten früher eine kleine Spalte über Kriminalität in der Lokalzeitung“, sagt John, ein pensionierter Lehrer. „Heute sind es zwei Seiten.“
Boston erlangte landesweite Bekanntheit, als der Thinktank Policy Exchange die Stadt zur „am schlechtesten integrierten Gemeinde“Großbritanniens kürte. Der Durchschnittslohn liegt mit 9,13 Pfund unter dem Landeswert von 13,33 Pfund. Zugleich liegt die Arbeitslosigkeit bei nur 4,4 Prozent. Die ausländischen Arbeiter nehmen keine Arbeitsplätze weg. Die Wirtschaft blüht. Aber die Menschen haben nichts davon.
„Zahlen sind bedeutungslos“
Dafür machen sie die Zuwanderer verantwortlich – und die Politiker: „Bloody fucking nobody“, antwortet Tom auf die Frage, wem er noch vertraut. In der mächtigen Stadtkirche von Boston mahnt Vikarin Angela Buxton: „Es geht um die Würde des Menschen.“Geweiht ist die Kirche dem Heiligen Botolph, dem Schutzpatron der Reisenden. Im 16. Jahrhundert wanderten mehr als zehn Prozent der Bevölkerung nach Amerika aus und gründeten dort ein neues Boston.
Geschichtsträchtig ist auch die Kleinstadt Grantham in den East Midlands: Hier wurde 1925 Margaret Thatcher geboren. In ihrem Geburtsort sind heute EU-Befürworter fast so schwer zu finden wie ihr Elternhaus. Nur eine bescheidene Gedenktafel erinnert an die „Eiserne Lady“. „Ist mir eigentlich egal“, meint die Studentin Linda auf Fragen nach Thatcher und dem EU-Referendum. „Politik ist nicht mein Ding.“
Unter der älteren Generation dominieren auch hier die Sorgen. „Einwanderung war im- mer gut für unser Land, aber nur unter Kontrolle“, sagt Rose im Stadtmuseum. Die Klagen der Menschen sind dieselben wie in Boston. Der Autor Ben Judah schreibt: „Zahlen sind vollkommen bedeutungslos. Worum es den Menschen in Wirklichkeit geht, ist die ethnische Veränderung.“Für alles machen die Menschen die EU verantwortlich, wie man es ihnen seit Jahrzehnten einbläut. „So lange wir in der EU sind, werden wir nie das letzte Wort haben“, sagt Rose.
Hoch ist die Mobilisierung der EU-Befürworter hingegen in London. Im strahlenden Sonnenschein in Greenwich lassen sich Anthony und Maya ihren Enthusiasmus nicht nehmen. „Es läuft gut, wir finden hohe Zustimmung“, sagt sie und verteilt Flugblätter für „Britain Stronger In Europe“.
Uneins ist das Ehepaar Jane und Ron. Während sie „zum Verbleib tendiert“, will er zuerst gar nichts sagen, ehe er loslegt: „Was gibt es da eigentlich noch zu fragen? Dieses Land ist an den Grenzen seiner Belastbarkeit. Der EU-Austritt ist unsere letzte Chance.“
Elf Prozent der heute in Großbritannien geborenen Kinder haben mindestens einen Elternteil aus einem anderen EU-Staat. In Londoner Bezirken wie Newham gibt es Schulen, in denen kein einziges Kind Englisch als Muttersprache hat. Wenn sie elf Jahre alt sind, übertrumpfen sie die meisten britischen Schulkameraden. „Das größte Problem für uns sind weiße Kinder aus der britischen Arbeiterklasse“, sagt Schuldirektor Iain Erskine. Die Eltern dieser Kinder stellen einen Kern der EU-Gegner dar. Sie sehen sich als Verlierer massiver wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen in den vergangenen fünfzehn Jahren. Fakten – wie etwa die Tatsache, dass ausländische Arbeitnehmer allein im Finanzjahr 2013/14 einen Nettobeitrag zum Staatshaushalt von 2,5 Milliarden Pfund leisteten – werden ihre Wahl am 23. Juni nicht entscheiden.