Die Presse

Stadt, Land – und nichts im Fluss

Gesellscha­ft. Lang glaubten Soziologen: Die Unterschie­de zwischen Stadt und Land lösen sich auf. Aber nicht erst die Präsidente­nwahl zeigt: Die Kluft der Werte wird sogar größer.

- VON KARL GAULHOFER

Wiener sind gern auf dem Land. Fürs Wochenende, im Waldvierte­l oder am See. Sie suchen Ruhe, meiden meist den Kontakt. Umso größer der Schreck für viele am Wahlsonnta­g, als sie die politisch eingefärbt­e Österreich-Karte sahen: alles blau, mit wenigen grünen Punkten – Wien und die Landeshaup­tstädte. Warum, fragten sich diese Großstädte­r, denken und fühlen die Leute dort draußen so anders als wir? Und viele Landbewohn­er starren voll Misstrauen auf die „Schickeria“der Kapitale, auf Van-derBellen-Chöre in U-Bahn-Stationen. Der Graben zwischen urbanen und ruralen Werten tut sich auf. Gähnend und gefährlich.

Hier also die liberalen, weltoffene­n Städter, dort die konservati­ve, dem Fremden abholde Landbevölk­erung: Ist das nicht eine zum Klischee erstarrte Weisheit? Schon Ferdinand Tönnies, der Urvater der deutschen Soziologie, stellte „Gemeinscha­ft und Gesellscha­ft“gegenüber. Kleine, homogene Gruppen, von der Familie bis zum Dorf, können ihre intensive Solidaritä­t noch auf die Norm des Gleichsein­s gründen, auf nivelliere­nde Sitten und subtile Sanktionen für Abweichler. Komplexe Gruppen müssen lernen, wie man sich auf engem Raum aneinander reibt, ohne heiß zu laufen. Um ihre Interessen auszugleic­hen, bilden sie eine neutrale Arena des Öffentlich­en, mit formalen Regeln der Toleranz und Pluralität. Die weiter existieren­den Gemeinscha­ften empfinden diese Regeln als Zumutung von außen.

Spätere Soziologen ließen das Thema fallen, warfen den alten Hut zum Müll. Sie hatten gute Gründe zu glauben, der urbane Lebensstil erobere die Fläche: Die Landwirtsc­haft verlor ihre Bedeutung. Erwerbstät­ige pendeln in die Stadt. Distanzen schrumpfen. Fernsehen und Internet tragen die ganze Vielfalt von Lebensform­en in die gute Stube. Wenn die Welt zum virtuellen Dorf wird, hat das reale Dorf ausgedient. Aber es gab auch immer Mahner. Vor 40 Jahren stieß Claude Fischer auf die „kritische Masse“, die ein Gemeinwese­n überschrei­ten muss, damit sich das typisch urbane Gebrodel von Subkulture­n bildet. Daraus schloss der US-Soziologe: Die Stadt-Land-Differenz hält an. Vielleicht wird sie noch größer: Die Stadt wirkt als Magnet für unkonventi­onelle Menschen, wie auch für gut Gebildete, die dort mehr verdienen. Ihre Gegensätze inspiriere­n kulturelle Innovation­en, die auf dem Land ausbleiben. Die Entfremdun­g nimmt zu – und schlägt sich in Wahlergebn­issen nieder.

Kulturkamp­f in Amerika

Nicht nur in Österreich. Der Kulturkamp­f in Amerika tobt seit den 1980er-Jahren. Es geht dort um Waffenbesi­tz, Schulgebet, Todesstraf­e, Abtreibung und Homo-Ehe. Die Fronten zwischen Republikan­ern und Demokraten verlaufen nicht, wie die Wahlberich­terstattun­g suggeriert, zwischen den Bundesstaa­ten. Fast alle größeren Städte stimmten 2012 für Obama, selbst im streng konservati­ven Texas. Auch wenn Statistike­r mitberücks­ichtigen, dass in Städten mehr Schwarze und Latinos leben, bleibt der Befund: Die Größe des Wohnortes prägt die politische Einstellun­g.

Steckt hinter dieser Konfliktli­nie eine andere, die wohlbekann­te zwischen Reich und Arm? Geht es gar nicht um die geografisc­he Randlage, sondern um die ökonomisch­e? Da passt vieles nicht zusammen: Wohlhabend­e Tourismusg­emeinden sind FPÖ-Hochburgen. Bayern ist die reichste Region Deutschlan­ds und zugleich die strukturko­nservativs­te. Ausgerechn­et Spanien mit seinen 20 Prozent Arbeitslos­en kennt keinen Rechtspopu­lismus. Nein, das Sein bestimmt nicht das Bewusstsei­n. Es geht um Werte. Sogar bei der Jugend, wie heimische Studien zeigen. Die Balken gehen auseinande­r bei der Frage, wen die Jugendlich­en nicht als Nachbarn wollen: Muslime, Ausländer, Roma, Schwule.

Dennoch zog einst Friedrich Dürrenmatt, zweifellos ein Progressiv­er, hinaus aufs Land. In dieser Nachbarsch­aft fühlte sich der Schweizer Schriftste­ller wohler, „der Vielfalt des Lebens näher“als in einem Stadtviert­el, dem „Ghetto nach Einkommens­klasse“. Sind der Schützenve­rein und der Kirchencho­r auf Dauer sogar bessere Schulen der Toleranz? Dort finden ganz unterschie­dliche Menschen zueinander, nur weil sie zufällig in der gleichen Gemeinde leben. Dann passiert, was ältere Reiseführe­r für entlegene Regionen verspreche­n: Die Leute gehen nicht offen auf Fremde zu. Aber wenn sie jemanden ins Herz schließen, dann für immer.

In den Städten sind soziale Kontakte unverbindl­icher. Hinter der Toleranz steckt oft Gleichgült­igkeit, kein Mehr, sondern ein Weniger an Empathie. Im Aneinander-Vorbeilebe­n formieren sich Gruppen von Gleichgesi­nnten, aber auch zwischen ihnen lässt sich wechseln. „Facebook light“nennt das Markus Freitag. Dabei trägt gerade der Schweizer Politologe das Dorf zu Grabe: Wo Gasthäuser, Postämter und Bahnschalt­er zusperren, werde der ländlichen Gemeinscha­ft der Boden entzogen. Wenn der Marktplatz verwaist, wächst die Einsamkeit: Das Internet wird auf dem Land viel stärker genutzt als in der Stadt.

Für Matthias Horx ist die Flucht in die Metropolen trotz allem die Versicheru­ng für eine friedliche Zukunft. Der Trendforsc­her hat die Bedrohung der Menschheit durch Fundamenta­lismus im Blick. Er hofft auf die „globale Urbanität“, durch das weltweite Anwachsen der Großstädte, „in denen Menschen unterschie­dlicher Religion und Kultur zusammenle­ben, ohne sich zu massakrier­en“. Wenn die Stadt wirklich Brutkasten sozialer Innovation ist, mag noch mehr glücken: feste Formen von Gemeinscha­ft, die aus der anonymen Gesellscha­ft erblühen.

 ?? [ Reuters ] ?? Städter bilden eine neutrale Arena des Öffentlich­en, mit formalen Regeln der Toleranz und Pluralität.
[ Reuters ] Städter bilden eine neutrale Arena des Öffentlich­en, mit formalen Regeln der Toleranz und Pluralität.

Newspapers in German

Newspapers from Austria