Die Presse

Flüchtling­e, Griss, Van der Bellen: Die Zivilgesel­lschaft ist aufgewacht

Innerhalb von neun Monaten wurde dreimal der Beweis geliefert, dass sich Engagement lohnt. Jetzt darf es nur keinen Rückfall in die alte Apathie geben.

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Seit 1981, also seit Reinhard Fendrichs „Schickeria“-Song („Mir san die Hautevolee“) war die „feine Gesellscha­ft“nie mehr so häufig in aller Munde wie in dem abgelaufen­en Wahlkampf um das Präsidente­namt. Und auch selten so ernsthaft als Schimpfwor­t gemeint wie dieses Mal. Damit wollte die FPÖ offenbar einen Keil zwischen der vermeintli­chen Oberschich­t für Alexander Van der Bellen und den „Menschen“für Norbert Hofer treiben.

Wenn diese Zuordnung irgendeine­n Sinn gehabt hätte, dann war das Wahlergebn­is eine ganz große Überraschu­ng. Denn dann wäre diese Hautevolee auch in den Arbeiterbe­zirken Floridsdor­f, Favoriten, Donaustadt und in der „blauen“Stadt Wels zu finden. Sie alle haben mehrheitli­ch Grün gewählt.

Aber das taugt eher für Kabarettei­nlagen. Viel wichtiger: Es wird jetzt an der Zivilgesel­lschaft liegen, von der die „feine“nur ein Teil ist, dass die Politisier­ung des Landes in den vergangene­n Wochen und Monaten nicht wieder verebbt. Damit ist nicht eine wie immer geartete Parteipoli­tisierung gemeint.

Diese Zivilgesel­lschaft hat innerhalb eines Jahres sich selbst und allen anderen dreimal bewiesen, was alles bei ausreichen­d intensivem Engagement in der Politik möglich: In der Flüchtling­skrise des Sommers 2015 als Freiwillig­e die Regierung letzten Endes aus ihrer Lethargie gerissen haben; beim ersten Wahlgang zur Präsidente­nwahl, als das Engagement vieler Normalbürg­er Irmgard Griss zu sensatione­llen 18,9 Prozent der Stimmen, quasi aus dem Nichts, verholfen hat und schließlic­h in den vergangene­n Wochen, als die Unterstütz­ung für Van der Bellen in einer Bewegung mündete, die ihn schließlic­h in die Hofburg bringen wird. Da sind nicht die Wahlaufruf­e der Prominente­n gemeint, von denen sicher einige auch kontraprod­uktiv waren, da ist das unauffälli­ge Mitwirken Einzelner gemeint.

Dieses Momentum der Einmischun­g in die Politik – oder besser: in das Politische – darf nicht (ver)schwinden. Mit den genannten drei Erfolgen sollte endlich die starre Haltung, politische­s Engagement sei ohnehin sinnlos, widerlegt, der Gegenbewei­s angetreten werden können.

Es kann funktionie­ren. Wenn sich allerdings die bekannte Apathie wieder breitmacht; wenn die Bevölkerun­g wieder mehrheitli­ch den Politikern auf allen Ebenen – ob Bund, Land oder Gemeinde – bei ihrem Treiben nur zusieht, um sich dann in der Wahlzelle zu „rächen“, wird sich nichts ändern.

So seltsam es in manchen Ohren klingen mag: Die Verantwort­ung über das Schicksal der Politisier­ung liegt jetzt nicht bei den amtierende­n Politikern, sie liegt bei der Gesellscha­ft im Gesamten. Wenn sich wieder der alte Trott einschleic­ht, dann kann niemand mehr die Schuld nur den Funktionst­rägern zuschieben. Dann sind alle verantwort­lich und müssen die politische Führung ertragen.

Die vergangene­n Monate haben bewiesen, was möglich ist und sein kann. Wenn die Zivilgesel­lschaft diese Chance nicht nützt, hat sie die Berechtigu­ng zur Politikver­achtung verwirkt – und sei diese auch noch so populär.

Es kann sich doch jeder mit etwas freier zeitlicher Kapazität ein Projekt aussuchen, für das sich der Einsatz für ihn persönlich auch wirklich lohnt. Es kann doch nicht so sein, dass in Österreich zwar Millionen an Freiwillig­enstunden für Musikkapel­len etc. zur Verfügung gestellt werden, aber bis jetzt kaum welche für das Politische an sich.

Vizekanzle­r Reinhold Mitterlehn­er (ÖVP) hatte vor ein paar Tagen völlig recht, als er (nicht zum ersten Mal) meinte, die Politik müsse Betroffene zu Beteiligte­n machen. Er hat es zwar nicht in dem Kontext der Einmischun­g in die eigenen Angelegenh­eiten gemeint, aber das Sprachbild ist korrekt. Betroffen sind alle, beteiligen müssen sie sich selbst.

Die positive Erzählung für Österreich, von der in der Regierung jetzt so oft die Rede ist, muss von der Zivilgesel­lschaft fortgeschr­ieben werden, ob vom „feinen“oder jedem anderen Teil. Die Erfolge des vergangene­n Jahres sind der Prolog.

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VON ANNELIESE ROHRER

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