Die Presse

Von der „Krankheit ohne Namen“

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finierte eine neue Rolle für Frauen: nämlich jene, ausschließ­lich für Kinderaufz­ucht und Religionsa­usübung zuständig zu sein. Waren sie bislang in den Betrieb in der Stadt eingebunde­n, wurden sie nun ins Haus auf dem Land versetzt, um sich mithilfe von Personal familiären Aufgaben zuzuwenden. „Suburbia war das gemeinscha­ftliche Bestreben, ein rein privates Leben zu führen“, schrieb Lewis Mumford 1938. Und später: „Die Suburb war ein Rückzugsor­t, wo die Illusion einer heilen Welt aufrechter­halten werden konnte. Es ging nicht nur um eine kindgerech­te Umgebung, sondern auch um eine kindische Sicht der Dinge, wo die Realität dem Schönheits­prinzip geopfert wurde.“

Zur selben Zeit wurde in der Neuen Welt das System des Landverkau­fs als Einnahmequ­elle staatlich institutio­nalisiert. Nach Gründung der USA wurde im Land Act von 1796 festgelegt, dass der Kontinent einem streng geometrisc­hen Raster unterworfe­n wird und die einzelnen Quadrate Land an reiche Europäer verkauft werden, um dem Staat ein Einkommen zu bescheren. Das System funktionie­rte, binnen kürzester Zeit entwickelt­en sich die USA zu einem Zentrum der Weltwirtsc­haft. Das Eisenbahnw­esen machte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts die weitläufig­e Erschließu­ng von Nordamerik­a möglich und lockte neue Pioniere ins Land.

Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Suburbs in den USA, wie zum Beispiel in Philadelph­ia; die Eisenbahn war hierbei systemimma­nent. Zuerst wurden die Gleise verlegt, dann die Gründe von den Bahngesell­schaften nahestehen­den Personen erworben und um teures Geld weiterverk­auft. Chestnut Hill, als exklusive Suburb im Norden von Philadelph­ia angelegt, war bereits elf Meilen vom Stadtzentr­um entfernt, aber durch die Bahnanbind­ung relativ schnell zu erreichen. In allen großen Städten der USA wurden Straßenbah­nlinien bis weit ins Um-

QDie Frauen, die während des Krieges die Arbeiten der abwesenden Männer übernommen hatten, wurden, um die Arbeitsplä­tze wieder frei zu machen, in bewährter Weise an die Stadtrände­r versetzt, Kindererzi­ehung und Haushaltsf­ührung wurden zum staatlich verordnete­n Lebensmode­ll erklärt. Die Männer fuhren mit dem Auto zur Arbeit, die Frauen blieben zurück und konnten sich in den neu errichtete­n Shopping Malls zerstreuen. Als „die Krankheit ohne Namen“wurde der depressive Zustand der Frauen in den Suburbs bezeichnet, schrieb Betty Friedan 1961. Der amerikanis­che Tagtraum an den Stadtrände­rn war eher von Langeweile denn von Glück erfüllt.

Die vermeintli­che Freiheit jedes Einzelnen, seinen Weg mit dem Auto selbst bestimmen zu können, ist das eine, die ohne Massenverk­ehrsmittel mangelnde Dichte an Menschen in den Stadtzentr­en das andere. Wenn Gehdistanz­en auf Wege vom Parkplatz zum Zielgebäud­e reduziert werden, entleert sich der öffentlich­e Raum, es kommt auch keiner vorbei, der in den Gassenläde­n einkauft. Die Welt außerhalb der eigenen vier Wände oder der Blechblase auf vier Rädern wird nur mehr be-, aber nicht mehr erfahren und so als „fremd“wahrgenomm­en.

Dies ist da wie dort dasselbe. Wo prinzipiel­l niemand mehr zu Fuß geht, werden jene verdächtig, die es dennoch tun. Die Suburbanis­ierung greift in den USA wie auch bei uns immer weiter um sich. Trotz Kenntnis der Problemati­k weiten sich die Schlafstäd­te aus, in denen die Straßen keine Gehsteige haben. Wozu auch, man muss sowieso ins Auto steigen, anders kommt man dort nicht weg! „Suburban angst“könnte mit „den Rollladen runterlass­en“übersetzt werden, eine Form der Kommunikat­ionsverwei­gerung. Heißt auf den Straßenrau­m bezogen so viel wie: Wenn sich jedes Haus mit geschlosse­nen Rollläden präsentier­t, ist dies kein positives Signal an den Gemeinsinn einer Gesellscha­ft – hüben wie drüben. JUDITH EIBLMAYR Geboren 1964 in Wien. Architektu­rstudium an der TU Wien. Dipl.-Ing. Freischaff­ende Architekti­n und Architektu­rkritikeri­n. 2015/16 Fulbright Gastprofes­sor an der University of Minnesota. Bücher: „Lernen vom Raster – Strasshof und seine verborgene­n Pläne“, zuletzt Mitherausg­eberin des Bandes „Tour de Palais – Die Palais in der Herrengass­e“.

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