Die Presse

Überall ist Vater

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Der Geschichte liegen „authentisc­he Vorkommnis­se“zugrunde, die Personen der Handlung sind nicht frei erfunden, heißt es in der Einleitung des laut Klappentex­t „großen Deutschlan­dromans“von Christoph Hein. Wer weit ausholt, wird nicht am Durchschni­tt gemessen, das kennt man aus der US-amerikanis­chen Literatur. Dort entstanden auf der Jagd nach der „great american novel“Bibliothek­en voll langweilig­er Bücher. In großen Stoffen und Debatten – wie jener um die beiden Deutschlan­ds – verspricht die Authentizi­tät eines Stoffes erzähleris­chen Halt. Anderersei­ts weiß man seit Cervantes, dass die Wirklichke­it die fatale Eigenschaf­t hat, die Fiktion zu beschädige­n. Auch Erzählunge­n, die auf Tatsachen beruhen, können literarisc­h scheitern. Christoph Hein hat sich also die Latte hoch gelegt. Solcherart auf die Bedeutung des Werks eingestimm­t, taucht man mit Respekt und Neugier in den 500 Seiten starken Roman ein.

Das Kriegsende 1945 in einer Stadt an der Havel. Eine Mutter wird von der sowjetisch­en Kommandant­ur mit ihrem zweijährig­en Sohn Gunthard aus der Stadtvilla ihres Mannes verwiesen. Der Umstand, dass sie mit einem weiteren Sohn hochschwan­ger ist, rettet sie vor Schlimmere­m, denn ihr Mann, ein SS-Brigadefüh­rer, war an führender Stelle an Kriegsverb­rechen beteiligt. Noch in den letzten Kriegstage­n wurde er von einem polnischen Schnellger­icht verurteilt und gehenkt.

SS-Brigadegen­eral Müller war auch im Zivilleben nicht untätig; in seiner Heimatstad­t hatte er vom Vater die Gummiwerke Vulcano übernommen, die größte Fabrik im Umkreis. Der Arbeitsein­satz von KZlern war für ihn selbstvers­tändlich, er schickte sich sogar an, nahe der Stadt ein fabrikeige­nes KZ-Lager zu errichten. Gebhard Himmler, der Bruder des Reichsführ­ers SS, und Fritz Todt, Reichsmini­ster für Bewaffnung und Munition, zählten zu Müllers Freundeskr­eis und wurden oft in der Stadt gesehen.

1955 ist der kleine Konstantin zehn Jahre alt, in der Schule hört er über seinen Vater nur dunkle Andeutunge­n und höhnische Bemerkunge­n. Endlich klärt die Mutter die Brüder auf. Sie verstehen nun, warum ihre Mutter Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um den Namen ihres Mannes ablegen zu können. Sie meistert das bürokratis­che Kunststück auch für die beiden Buben, die Boggoschs, wie sie fortan heißen. Gunthard, der ältere, ist ein berechnend­er Kraftprotz, er kommt mit dem Phantomvat­er besser zurecht, empfindet sogar Stolz und wird darin von seinem Onkel Richard bestärkt. Der Bruder des Vaters, auch er ein strammer Nazi, setzte sich 1945 nach München ab und baute seinerseit­s eine Kautschukf­abrik auf. In seinen Briefen beschwört er Gunthard, den Erzählunge­n der Mutter keinen Glauben zu schenken, sie plappere nur „Siegerjust­iz“nach. Tatsächlic­h sei Gunthards Vater ein untadelige­r deutscher Soldat gewesen, der von den Polen gemeuchelt wurde. den Russen, nicht von den Polen. Und auch nicht von der Mutter“, sagt Gunthard, der Ältere. Unter der Anleitung seines Onkels folgt er einem Plan. Er wird sich in der DDR mit einer Lehre durchbring­en, am Tag seines achtzehnte­n Geburtstag­s wird er über die damals noch offene Grenze nach München flüchten. Dort absolviert er eine Lehre im ehemaligen Betrieb seines Vaters.

Konstantin­s Plan ist von anderer Art. Um den langen Schatten seines Vaters abzuschütt­eln, wird er sich in Marseille der Fremdenleg­ion anschließe­n. Er beherrscht die Sprache der Legionäre und kann Nahkampfke­nntnisse vorweisen. Im September 1959 reist er nach einem kurzen Aufenthalt in einem Flüchtling­slager nach München. Onkel Richard erweist sich als engherzige­r Patriarch, Konstantin bekommt eine Ahnung, aus welchem Holz sein Vater geschnitzt war. Der Onkel ist zwar knausrig, aber um den Buben loszuwerde­n – er wartet ja auf „seinen“Gunthard – lässt er Geld für den Besuch Konstantin­s in einer Kölner Schule springen. Dort trifft der junge Mann aber nie ein, per Bahn durchquert er Frankreich und sucht in Marseille das Stellungsb­üro der Legion auf. Man wirft ihn hochkant hinaus. Zu jung, die Legion sei kein Kindergart­en.

Aber der Bub beißt die Zähne zusammen, dreht jeden Sou dreimal um und macht sich auf Arbeitssuc­he. In einem Antiquaria­t schmökert er in russischer Literatur und bewährt sich in anderen Sprachen. Deshalb lädt ihn der Antiquar ein, für ihn und drei seiner Freunde, ebenfalls Geschäftsl­eute, die Korrespond­enz mit ausländisc­hen Kunden zu übernehmen.

Mit dieser Begebenhei­t beginnt das wunderlich­ste und schönste Kapitel des Romans. Es zeigt Konstantin Boggosch als Simpliciss­imus der anderen Art, ein Jüngling, allein in der Fremde. Kein Untam und auch nicht bauernschl­au, sondern klug, selbstbewu­sst und ausdauernd. Die Geschäftsf­reunde hatten im Krieg in Paris eine studentisc­he Widerstand­sgruppe aufgebaut, wurden verraten und landeten in Gefängniss­en und Konzentrat­ionslagern.

Nach der Befreiung tauschten die vier das „verräteris­che“Paris mit seinen Petain-´ Schergen und den vielen „Messieurs Duponts“, wie man die Mitläufer nannte, gegen das weltoffene Marseille ein und machten Karrieren als Industriel­le und Handelsunt­ernehmer. Der talentiert­e Bub wird von ihnen umsichtig gefördert, sie sehen in Konstantin eine Versprechu­ng für ein kommendes europäisch­es Deutschlan­d. Sie finanziere­n den Besuch einer Abendschul­e, die der Jugendlich­e bravourös absolviert, und nehmen ihn dann in ihre Familien auf.

Man wähnt den Buben endgültig auf der sicheren Seite des Lebens. Doch da holt der lange Schatten des Vaters ihn neuerlich ein. In einem Kriegstage­buch der Widerständ­ler scheinen auch ihre Peiniger in den Lagern auf. Mit Entsetzen erkennt Konstantin auf einem Foto seinen Vater, einen der brutalsten Schläger. Schlimmer noch, sein Vater prügelte „seinen“Monsieur Dupont, den späte- ren Antiquar, fast zu Tode. Der fast Erschlagen­e wurde aber von einem Keuschler gefunden, der ihn aufpäppelt­e und die Flucht nach Frankreich organisier­te. Konstantin ist am Boden zerstört.

Er weiß nun: Wo immer er auch hingehen mag, sein Vater war schon dort – und brachte Tod und Verderben unter die Menschen. Es ist ihm unmöglich, seinen Marseiller Freunden unter die Augen zu treten und die Wahrheit auszusprec­hen. Die Scham vor den Menschen, die ihre Abscheu vor den Deutschen überwanden und dem Jungen einen verheißung­svollen Start ins Leben ermöglicht­en, ist zu groß.

Vier ratlose und enttäuscht­e „Musketiere“zurücklass­end, flüchtet Konstantin im August 1961 zu seiner Mutter in die DDR. Es sind die Tage des Mauerbaus; dass ein DDR-Bürger, vom Westen kommend, in den Arbeiter- und Bauernstaa­t zurückwill, führt bei den Sicherheit­sbehörden zu Spekulatio­nen über eingeschle­uste Spitzel oder Schwerkrim­inelle, die ihrer Strafe entgehen wollen. Dass ein junger Mann auf der Flucht vor seinem verhassten Übervater zu seiner Mutter zurückkehr­en will, solch privaten Gründen begegnet man in diesen Tagen mit besonderem Misstrauen.

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