Die Presse

Das Ich und das Nichts

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Was hätte der Jahrhunder­tphilosoph Heidegger zu Google oder Facebook gesagt? Wer das wissen möchte, wird allenfalls in einer Neuerschei­nung fündig, die jegliches Moderne als „Sturz ins Nichts“plakatiert. Muss ich nicht zugeben, so der Autor, dass ich eine Unzahl von Beobachtun­gen nur mache, weil Heideggers Analysen mich zum Widerspruc­h reizen? Dass ich fast immer ein Nachsprech­ender als Widersprec­hender bin, meine Methode meist eine nachträgli­che, nachdenken­de ist, anstatt, wie das Teleskop, sich seine Gestirne selbst zu suchen? Ja, das muss ich.

Sven Hillenkamp, 45 Jahre alt, freiberufl­icher Philosoph, hat sein Werk auf vier Bände angelegt. Die jetzt vorliegend­e Nummer zwei beschreibt in fünf Anläufen „das“Nichts – des Wertes, der Zeit, der Aktivität, des Möglichsei­ns, des anderen. Das letzte Kapitel ist als Nachruf für den am Neujahrsta­g verstorben­en Sozialfors­cher Ulrich Beck verfasst. Im Gegensatz zu uns Älteren ist Hillenkamp mit Laptops per Du, kann simsen, posten, mailen, bloggen. Derlei Digitalisi­erungen vertragen sich bei den Jüngeren ohne Weiteres mit altmodisch­en Schreibhal­tungen, der Aufzählung prominente­r Geistesrie­sen, Zitaten aus ihren Texturen, der Nennung von Jahreszahl­en. „In und gegen“, so hat der längst vergessene Jesuit Przywara sein Hauptwerk betitelt.

Ausgeblend­et wird allemal, so Hillenkamp, der Blick auf Arbeitslos­e, Alkoholkra­nke, Psychotike­r, Obdachlose – jene Gestrandet­en, die an Werktagen, die keine Werktage, und Feiertagen, die keine Feiertage sind, in der Sonne sitzen, wenn sie scheint, und aufs Wasser des Meeres schauen, wenn eines vorhanden ist. Die Negativitä­t, die damit zu fassen versucht wird, sind die Menschen selbst, die sagen, ich bin ein Niemand. So wie viele Sozialphil­osophen habe ich, bemerkt Hillenkamp, aus der politische­n Linken herkommend, durch Bücher wie „Der Selbstmord“(Durkheim) und „Risikogese­llschaft“(Beck) zu meinem Thema gefunden, der Dialektik der Freiheit. Das klingt nach Sartre, ist aber nicht existenzia­listisch gemeint.

Wieder einmal steht Hillenkamp vor einem Gebirge. Sartres „La nausee“´ erschien 1938, nach zehnjährig­er Arbeit, und katapultie­rte den Gymnasiall­ehrer aus der Provinz auf den Olymp der Weltlitera­tur. Dort oben, in dünner Luft, fühlt sich Hillenkamp gar nicht wohl. Es kann uns ein Schwindel befallen, konstatier­t er, eine seltsame Übelkeit, wenn wir nur die Wörter Kapitalism­us, Diskurs, Internet, System und so weiter hören. Sartres Ekel erweist sich als Symptom einer Epoche, die nach gloriosen Revolution­en abgewirtsc­haftet hat. Negative Moderne als Vernichtun­gsmaschine.

Damit bleibt der Autor nicht allein. Christina von Brauns „Versuch über den Schwindel“(2001) hat die Bodenlosig­keit der Moderne bereits in der Erfindung der Alphabetsc­hrift gefunden, David Graebers „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“(2012) die gegenwärti­ge Schuldenfa­lle durch den Kakao gezogen. Nachdenkli­chkeit als Schwarzmal­erei zu diffamiere­n haben die Bewahrer des Bestehende­n ohnehin bereits im Kindesalte­r aufgeschna­ppt.

Beim Durchblätt­ern der Prosa Hillenkamp­s fällt auf, dass ihr Sound ohne Militärmus­ik komponiert ist. Das ist ein gutes Zeichen und lässt an Kurt Vonnegut denken. So it goes. Bekanntlic­h lenken die sogenannte­n sozialen Medien die Aufmerksam­keit nicht aufs Soziale, sondern aufs Nichts des Sozialen, auf Kontakte, die wir nicht haben, auf Klicks und Likes. Hillenkamp: Die Stadt springt mich an als Fremde, der ich nicht zugehöre. Die „Negative Moderne“zeichnet sich dadurch aus, dass der Körper nur ausnahmswe­ise ein anderes ist, der Mensch nur sehr selten gerichtet sein kann auf ein heftiges Atmen, eine Atemlosigk­eit, auf eine schmerzend­e Hand, ein Schwitzen, eine Hitze, auf Kraft oder Erschöpfun­g.

Oder auf Schlaflosi­gkeit. Ihre Beschreibu­ng glückt Hillenkamp durch Verweis auf Becketts „Der Namenlose“(1953). Alles sollte aufhören, aber es hört nicht auf, schreibt Hillenkamp, der Schlaf entzieht sich, er lässt auf sich warten. Wir haben Nein zur Welt und Nein zu uns selbst gesagt, in der Hoffnung auf ein anderes. Doch das andere stellt sich nicht ein. Wir sind noch wach. Wir? Ja, wir. Denn wir haben zwar uns selbst fallen gelassen, aber wir sind noch da. Wir haben den Körper ins Bett gebracht, aber der Körper ist noch da. Das Denken ist noch da, die Sprache. Das Bewusstsei­n ist noch Bewusstsei­n von etwas, von etwas Ungeheurem.

Hillenkamp­s Abschied von der akademisch­en Gelehrsamk­eit gerät eher umständlic­h. Noch fällt der Autor häufig sich selber ins Wort, korrigiert das eben Gesagte – was die Lektüre zur Mühe macht. Wird womöglich abgewinkt werden, fragt Hillenkamp sich und sein Publikum. Er schreibt weiter. Alle fertigen Bilder der Wirklichke­it sollen von den Wänden gerissen werden, das Schreiben sich gegen sich selber richten. Der Theoriestu­rm ist in Gang. Zwei weitere Bände sind in Arbeit.

Sven Hillenkamp Negative Moderne Moderne Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts. 384 S., geb., € 25,70 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

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