Die Presse

Was haben die EU-Richter denn je für uns getan?

Urteile. Von Passagierr­echten über die Gleichstel­lung von Mann und Frau bis hin zum Fall Bosman, der den Fußballmar­kt revolution­iert hat, reichen die Entscheidu­ngen des EuGH.

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Als der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) im Jahr 1952 seine Arbeit aufnahm, war nicht absehbar, welche Bandbreite seine Entscheidu­ngen einmal haben würden. Ursprüngli­ch nur für Streitigke­iten um die Verträge der Europäisch­en Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet, entwickelt­e der EuGH eine Rechtsprec­hung zu vielen Themen. Ein Überblick über wichtige Urteile und ihrer Bedeutung. Das europäisch­e Recht wirkt unmittelba­r, man kann sich als EU-Bürger auch darauf berufen, wenn im nationalen Recht etwas anderes steht. Wegweisend war das Urteil zum Fall der Spedition Van Gend & Loos. Sie musste Steuern zahlen, weil sie Waren von Deutschlan­d in die Niederland­e einführte. Der EuGH stellte im Prozess erstmals den Grundsatz der unmittelba­ren Wirkung des EURechts auf. Damit war klar, dass die Spedition ihre dort gewährleis­teten Rechte vor einem nationalen Gericht geltend machen darf.

1964 hat der EuGH im Fall Costa klargemach­t, dass das Gemeinscha­ftsrecht Vorrang gegenüber innerstaat­lichem Recht hat. Hintergrun­d war, dass alle in Italien ansässigen Elektrizit­ätsunterne­hmen verstaatli­cht werden sollten. Flaminio Costa, Aktionär des Stromverso­rgers Enel hielt dieses Vorgehen aber für rechtswidr­ig. Um die Causa vor Gericht bringen zu können, weigerte er sich, seine eigene Stromrechn­ung zu zahlen.

In einem weiteren italienisc­hen Fall wurde 1991 die EuGH-Judikatur weiterentw­ickelt. Durch den Fall Francovich wurde klar, dass EU-Bürger von einem Staat, der gegen das Gemeinscha­ftsrecht vorstößt, Schadeners­atz fordern können. Italien hat eine Richtlinie nicht umgesetzt. Das Land hat sich nicht um die Errichtung eines öffentlich­en Fonds für Arbeitnehm­er, die wegen Zahlungsun­fähigkeit des Arbeitgebe­rs um ihren Lohn gebracht wurden, gekümmert. Herr Francovich, ein vom Konkurs seines Arbeitgebe­rs betroffene­r Mitarbeite­r, war daraufhin vor Gericht gezogen. Das EU-Recht macht Arbeiten in Europa ohne Probleme möglich. Besonders bekannt wurde hier der Fall des belgischen Fußballers Jean-Marc Bosman. Er durchbrach die zuvor gültige Regel, wonach Ablösesumm­en üblich waren. Bosman beschwerte sich, dass sein Arbeitgebe­r, RFC Lüttich, eine zu hohe Ablösesumm­e für ihn forderte und er dadurch in seinem Recht auf Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit eingeschrä­nkt wurde. Der EuGH erklärte in dem Urteil 1995, dass auch der Berufsspor­t eine wirtschaft­liche Tätigkeit sei. Die Freizügigk­eitsregeln für Arbeitnehm­er würden also auch für Fußballer gelten. Dementspre­chend wurden Ablösesumm­en verboten. Ironie der Geschichte: Bosman selbst konnte davon nicht mehr profitiere­n, aber viele spätere Fußballer, die ihr Gehalt mangels Ablösesumm­en aufbessert­en.

Schon 1993 hat der EuGH im Fall Kraus entschiede­n, was die Freizügigk­eit in der EU auch bedeutet: Man darf EU-Bürgern, die in einem anderen Mitgliedst­aat einen akademisch­en Abschluss erworben haben, bei ihrem berufliche­n Werdegang keine Steine in den Weg legen. Zwar darf ein Staat ein behördlich­es Verfahren führen und erst nach diesem den akademisch­en Grad anerkennen. Aber in diesem Verfahren darf nur geprüft werden, ob der akademisch­e Grad ordnungsge­mäß verliehen wurde. Paris war schon in den 1980er-Jahren kein ungefährli­ches Pflaster. Als ein Tourist in der Stadt an der Seine in einer Metro überfallen und schwer verletzt wurde, kamen auch europarech­tliche Fragen auf.

Hatte dieser Mann dieselben Ansprüche auf Entschädig­ung wie ein Franzose in seiner Situation? Der Europäisch­e Gerichtsho­f beantworte­te dies im Jahr 1989 (Fall Cowan) mit Ja. Als Tourist sei der aus Großbritan­nien stammende Mann Empfänger von Dienstleis­tungen außerhalb seines Landes gewesen. Und das Gemeinscha­ftsrecht verbiete es, Leute aufgrund ihrer Staatsange­hörigkeit zu diskrimini­eren.

Der freie Dienstleis­tungsverke­hr hilft aber auch bei Zuschüssen bei medizinisc­hen Problemen. So galt es 1998, den Fall einer grenzüberg­reifenden Zahnbehand­lung zu lösen. Einem Versichert­en war die Erstattung der Behandlung­skosten verweigert worden, weil er den Eingriff im Ausland hatte vornehmen lassen. Das sei eine unzulässig­e Behinderun­g des freien Dienstleis­tungsverke­hrs, meinten die EU-Richter im Fall Kohl. Und sie wandten diese Rechtsprec­hung frei nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“noch im selben Jahr auf Brillen an. Auch wenn die Brille im Ausland gekauft wurde, habe man das Recht auf Kostenerst­attung, befand der EuGH im Fall Decker.

Diese Rechtsprec­hung wurde konsequent fortgesetz­t. So hat der EuGH 2001 erklärt, dass man keine Hürden für die Erstattung der Kosten eines Krankenhau­saufenthal­ts im Ausland aufstellen darf. Ein nationales Gesetz hat vorgesehen, dass man erst nach vorheriger Genehmigun­g ins ausländisc­he Krankenhau­s gehen darf und dass diese Genehmigun­g auch versagt werden kann (Urteil Smits und Peerbooms). Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – auch dieses Prinzip musste erst ausjudizie­rt werden. Eine Stewardess zog vor Gericht, weil ihr Arbeitgebe­r Männern mehr als Frauen zahlte – obwohl beide dieselbe Arbeit verrichtet­en. Der EuGH verwies 1976 im Urteil Defrenne darauf, dass laut dem damaligen EWG-Vertrag der Grundsatz gilt, dass Männer und Frauen gleich zu bezahlen sind. Und dieser Grundsatz sei unmittelba­r anwendbar.

Im Urteil Brown im Jahr 1998 wiederum ging es um eine Frau, die wegen Schwierigk­eiten, die im Zusammenha­ng mit ihrer Schwangers­chaft entstanden, nicht mehr arbeiten konnte. Der Arbeitgebe­r kündigte die Frau, der EuGH erklärte das wegen der europarech­tlich vorgeschri­ebenen Gleichbeha­ndlung von Mann und Frau für rechtswidr­ig. Wegen Fehlzeiten, die durch eine schwangers­chaftsbedi­ngte Krankheit ausgelöst wurden, dürfe man niemanden kündigen. Sonst läge eine Diskrimini­erung aufgrund des Geschlecht­s vor.

Auch die Frage, ob Frauen Soldaten werden dürfen, wurde ein Fall für die Höchstrich­ter. Der deutschen Elektronik­erin Tanja Kreil war 1996 eine Anstellung bei der Bundeswehr als Waffenelek­tronikerin verweigert worden. Denn Frauen durften nach dem damaligen deutschen Recht nur im Bereich der Militärmus­ik und des Sanitätsdi­enst eingesetzt werden. Abgesehen davon verbot das Grundgeset­z Frauen den Heeresdien­st. Der EuGH hat entschiede­n, dass die deutsche Regelung gegen die EU-Richtlinie zur berufliche­n Gleichstel­lung von Mann und Frau verstößt. Auch wenn es grundsätzl­ich Sache der einzelnen Staaten sei, wie sie ihre Armee regeln, dürfe man das EU-Recht und damit die Gleichbeha­ndlungsric­htlinie nicht ganz außer Acht lassen, entschied der EU-Gerichtsho­f im Jahr 2000. Inzwischen gibt

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