Die Presse

Gericht: Richter fürchten, Daumen drehen zu müssen

Verdoppelu­ng. Viktor Kreuschitz, der österreich­ische Richter am erstinstan­zlichen Gericht in Luxemburg, kritisiert die bevorstehe­nde Vergrößeru­ng des Gerichts als kontraprod­uktiv, teuer und wenig durchdacht.

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Während die Justiz in den meisten EU-Staaten darüber klagt, mit zu wenigen Richtern auskommen zu müssen, vernimmt man am Gericht der Union den entgegenge­setzten Vorwurf: Dort werde die Richterzah­l bis 2019 völlig überflüssi­gerweise von derzeit 28 auf 56 verdoppelt. „Das bringt sehr viel Unruhe und großen Schaden“, sagt Viktor Kreuschitz, österreich­ischer Richter am Gericht, im Gespräch mit der „Presse“.

Kreuschitz ist mit seiner Kritik nicht allein. Sein belgischer Richterkol­lege Franklin Dehousse etwa hat erst kürzlich in einem fast 90-seitigen Dossier (Egmont Paper, The Royal Institute for Internatio­nal Relations) penibel beschriebe­n, wie es zu der auch aus seiner Sicht unnötigen Aufblähung des Gerichts gekommen ist. Dehousse nennt die Verdoppelu­ng der Richterzah­l „offenkundi­g exzessiv“; als Grund sieht er die Unfähigkei­t der EU-Staaten, sich auf etwas anderes als die schematisc­he Vergrößeru­ng von je einem auf zwei Richter zu einigen.

Das Gericht wurde 1989 als erste Instanz geschaffen, um den Gerichtsho­f zu entlasten. Es ist unter anderem für Wettbewerb­ssachen, staatliche Beihilfen und Markenstre­itigkeiten zuständig, auch nach Klagen von Mitglied- staaten gegen Entscheidu­ngen der Kommission und anderer Organe. Bürger oder Unternehme­n, die sich gegen Maßnahmen von Organen der EU beschweren wollen, können sich ebenfalls an das Gericht wenden: etwa wegen des Einfrieren­s verdächtig­er Gelder oder wegen Geldbußen, die von der EU-Kommission verhängt wurden.

Spektakulä­r war die Bestrafung des IT-Riesen Microsoft, die das Gericht 2007 in Höhe von 497 Mio Euro bestätigte. Grund: Missbrauch einer marktbeher­rschenden Stellung. Andere Urteile waren weniger spektakulä­r, aber ebenso wichtig für den Einzelnen: etwa darüber, dass die von EU-Entscheidu­ngen Betroffene­n ein Recht haben, gehört zu werden, oder dass die Behörden verpflicht­et sind, ihre Entscheidu­ngen zu begründen.

Der Aktenanfal­l beim Gericht nahm eine Zeitlang bedrohlich zu – und damit die Dauer der Erledigung­en. Es kam so weit, dass der EuGH urteilte, das Gericht hätte mit einem zu langen Verfahren die Fairness verletzt.

Allerdings gelang es dem Gericht, den Trend umzukehren und die Rückstände abzuarbeit­en. Die Produktivi­tät ist gestiegen, ohne dass Richter hinzugekom­men wären; es hat genügt, die Zahl der im Hintergrun­d arbeitende­n Referenten zu erhöhen. Schon zuvor hatte der EuGH aber die Ernennung zwölf zusätzlich­er Richter vorgeschla­gen. Bloß gelang den EU-Staaten nicht, sich auf einen Modus zu einigen, wer Richter schicken darf und wer nicht. Die einzig mögliche Einigung, für die sich auch der damalige EuGH-Präsident, Vassilios Skouris, starkmacht­e: Jeder Staat soll zwei Richter bestimmen dürfen. Und das geht so: Noch heuer wird das Gericht für den öffentlich­en Dienst (sieben Richter) ins allgemeine Gericht integriert, und zwölf neue Richter werden ernannt; bis 2019 kommen weitere neun dazu. Im Gegenzug sinkt die Zahl der Referenten.

Geld scheint dabei keine Rolle zu spielen. Während ein Referent nur etwa 100.000 Euro pro Jahr kostet, schlägt jeder Richter samt Kabinett mit dem Acht- bis Zehnfachen zu Buche. Und er bringt dem Gericht nichts, sondern schadet ihm nach Meinung Kreuschitz’ sogar. Kreuschitz befürchtet Nachteile für die Kohärenz der Rechtsprec­hung und Effizienzv­erluste, wie man sie auch nach der EU-Erweiterun­g 2004 habe feststelle­n müssen. „Dazu kommt noch, dass es für 21 zusätzlich­e Richter nicht genug Fälle geben wird und dass daher das Daumendreh­en bald auch zum allgemeine­n Phänomen wird“, schrieb Kreuschitz in einer Stellungna­hme zur Verdoppelu­ng der Richterzah­l.

„Amateurhaf­te Vorgangswe­ise“

Kreuschitz findet die Vorgangswe­ise „amateurhaf­t“; besser wäre es gewesen, das Gericht für den öffentlich­en Dienst beizubehal­ten und ein Spezialger­icht für Markensach­en einzuricht­en. Der SPÖ-nahe Österreich­er war vor seiner Ernennung zum Richter im September 2013 Rechtsbera­ter im Juristisch­en Dienst der EU-Kommission. Zuvor hatte er im Verfassung­sdienst des Bundeskanz­leramts gearbeitet. Der Nationalra­t hat mehrheitli­ch beschlosse­n (nur FPÖ dagegen), Kreuschitz nach den ersten drei Jahren für weitere sechs vorzuschla­gen. (kom)

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