Die Presse

„Der Migrations­druck erfordert vernünftig­e und klare Antworten“

Interview II. Juliane Kokott, deutsche EU-Generalanw­ältin, vermisst die richtigen Antworten der EU auf die aktuellen Flucht- und Migrations­bewegungen. Rechtsstaa­t und Sozialsyst­em kämen unter Druck.

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Die Presse: Hat die EU mit ihrem jetzigen Asyl- und Fremdenrec­ht die richtigen Antworten auf die aktuellen und wohl auch noch kommenden Flüchtling­s- und Migrations­bewegungen? Juliane Kokott: Da ist es objektiv schwierig, überhaupt die richtigen Antworten zu haben, und die Union hat sie offensicht­lich nicht. Nach dem Dublin-System sollen die Flüchtling­e dort verbleiben, wo sie gerade ankommen, und die Anträge müssen dort geprüft werden. Es liegt auf der Hand, dass Griechenla­nd und andere Staaten damit vollständi­g überforder­t werden. Darauf ist man nicht vorbereite­t. Wenn es funktionie­ren sollte, müsste man diese Staaten massiv unterstütz­en.

Es gibt eine Massenzust­rom-Richtlinie, die 2001 nach den ethnischen Vertreibun­gen in Ex-Jugoslawie­n geschaffen wurde und vorübergeh­enden Schutz ermöglicht. Sie klingt auf den ersten Blick wunderbar, aber sie regelt mehr Verfahren als Inhalte. Damit das Ganze ins Werk gesetzt wird, setzt sie eine Ratsentsch­eidung mit qualifizie­rter Mehrheit voraus. Dazu kommt es aber nicht. Außerdem enthält sie nicht die von Deutschlan­d gewünschte­n Quoten und Verteilung­en. Das ist auch schwierig: Es ist eine politische Frage, wie viele Personen man aufnimmt und wie man das ganze Verfahren gestaltet. Die Union ist eben nicht so weit integriert, dass man in dieser vitalen Frage ohne Weiteres zu Übereinsti­mmungen kommt.

Kein Mitgliedst­aat will mehr machen, als er unbedingt muss. Ja. In der alten Richtlinie stand auch noch drin, dass jeder Staat seine Aufnahmeka­pazität selbst definiert. Darüber ist man eben nicht hinausgeko­mmen.

Befürchten Sie, dass ein zunehmende­r Migrations­druck Rechtsstaa­tlichkeit und Menschenre­chte beeinträch­tigen kann? Das ist natürlich eine Herausford­erung. Es ist immer leichter, in Reichtum zu leben und den Kuchen unter wenigen zu teilen, als unter vielen neuen, eventuell künftigen Mitbürgern zu leben, die die Sprache hier noch nicht sprechen und noch keine Berufe haben. Das setzt den Rechtsstaa­t und die Sozialsyst­eme unter Druck. Da muss man vernünftig­e und klare Antworten finden.

Beim geplanten Freihandel­sabkommen TTIP ist die wirtschaft­sraumüberg­reifende Streitbeil­egung einer der umstritten­sten Punkte. Halten Sie die Schiedsger­ichtsbarke­it für ein geeignetes Mittel? Ich finde interessan­t, wie die Schiedsger­ichtsbarke­it als richtiger Beelzebub erscheint. Bislang war es ja so, dass seit den 1950er-Jahren gerade auch von Deutschlan­d aus in bilaterale­n Verträgen Schiedsger­ichte massenweis­e vorgesehen wurden. Nun soll man selbst Schiedsger­ichten unterworfe­n werden, und da ist plötzlich alles ganz anders. Aber natürlich ist man Rechtsstaa­t im Gegensatz zu den anderen Staaten, in denen man kein Vertrauen in den Rechtsstaa­t hat und man Schiedsger­ichte eingericht­et hat, um Investitio­nen anzuziehen. Es kommt darauf an, wie man die Schiedsger­ichte ausgestalt­et; per se würde ich sie nicht verteufeln. Man kann natürlich fragen, ob man sie braucht, aber selbst Frankreich hat meines Wissens Disneyworl­d Paris nur mit einer Schiedskla­usel bekommen. Ein Staat-Investor-Schiedsger­icht war die Bedingung dafür. Also auch zivilisier­te, europäisch­e Staaten können davon profitiere­n und lassen sich freiwillig darauf ein. Der EuGH folgt den Schlussant­rägen der Generalanw­älte nicht immer, aber doch häufig. Trügt der Eindruck, dass die Generalanw­älte die eigentlich­e Arbeit machen? Wir haben unterschie­dliche Sorten von Arbeit. Die Generalanw­älte haben – aus meiner Sicht zum Glück – mehr Zeit, sich einem spezifisch­en Fall und einem Akt in der Tiefe zu widmen, diesen zu durchdenke­n und ein konsistent­es Dokument durchzusch­reiben. Aber es geht nicht an, dass eine Person in ihrem Kämmerlein solche Fragen, die alle angehen und viele Rechtskult­uren betreffen, allein ausarbeite­t und das dann ohne Weiteres so entschiede­n wird. Die Richter hingegen müssen sich einigen. Sie verbringen viel Zeit damit, sich zu einigen. Das ist auch Arbeit.

Trotzdem bleibt es dabei: Wenn es Schlussant­räge gibt – und das ist etwa bei jedem zweiten Urteil der Fall –, folgt der EuGH ihnen in der Mehrzahl der Fälle. So muss das auch sein, weil der Gedanke der ist, dass die Lösung schon im Gesetz steht und dass man sie nur entdecken muss. Natürlich gibt es Fälle, in denen man so oder so entscheide­n kann, aber das Recht prägt das schon vor.

Wie beurteilen Sie Ihren persönlich­en Einfluss auf die Judikatur des EuGH? Sie haben zum Beispiel die viel beachtete Judikatur zum Umbrella-Pricing vorbereite­t. Diese ermöglicht Ersatzansp­rüche für Schäden, die durch überhöhte Preise entstehen, auch gegen Nichtkarte­llanten. Ja, das ist so ein Grenzfall. Ich versuche eben, durch Überzeugun­g zu wirken. Und das gelingt häufig, aber nicht immer. Ein Gegenbeisp­iel ist der berühmte Berlusconi-Fall.

Der frühere italienisc­he Ministerpr­äsident war wegen Bilanzfäls­chung angeklagt worden. Ja, und dann wurde durch die Regierung Berlusconi die Gesetzesla­ge nachträgli­ch so gestaltet, dass es aus formalen Gründen nicht mehr möglich war, ihn zu verfolgen. Ich habe gesagt, das ist nicht zulässig, weil das Unionsrech­t effektive Sanktionen gegen Bilanzfäls­chung vorschreib­t. Dem ist der Gerichtsho­f komischerw­eise nicht gefolgt.

Es gab dann später einen Fall, in dem der Gerichtsho­f die Anwendung ganz kurzer Verjährung­sfristen in Italien verboten hat, wenn es dadurch praktisch nie zu einer Verurteilu­ng wegen schweren Mehrwertst­euerbetrug­s kommt. Ja, das war der Fall Taricco. Da wurde gefolgt, und das führt zu vielen Diskussion­en in Italien.

In Ihren Schlussant­rägen zum österreich­ischen Fall Schwarze Sulm haben Sie Konfuzius zitiert mit: „Einen Fehler machen und nichts ändern, das ist der Fehler.“Warum das? Ich wüsste nicht, dass Konfuzius’ Aussagen EU-Recht wären. Das ist einfach eine allgemeine Weisheit. Juliane Kokott,

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