Die Presse

Im tiefen Schatten des Gurkerls

- VON KATHARINA HELM

In diesem Jahr feiert Queen Elizabeth II ihren 90. Geburtstag, Shakespear­e hat seinen Todestag zum 400. Mal hinter sich, und 350 Jahre ist es heuer her, dass ein verheerend­es Feuer 80 Prozent der Stadt zerstört und 100.000 Menschen obdachlos gemacht hat. Die Brandkatas­trophe ereignete sich nur wenige Monate, nachdem die Pest ihr tödliches Unwesen getrieben hatte. Das Feuer wurde insofern auch mehr als Gottes Strafe gesehen denn als Schuld jenes Bäckermeis­ters, der am Abend des 1. September 1666 das Feuer in seinem Ofen entgegen allen Vorschrift­en brennen ließ. Ob aus Bequemlich­keit, Trunkenhei­t oder Vergesslic­hkeit ist nicht überliefer­t.

Wie auch immer: Ein Funken brachte einen Stoß Feuerholz zum Brennen, und es dauerte nicht lang, bis die eng aneinander gebauten Holzhäuser, deren Dächer mit Pech wasserdich­t gemacht worden waren, lichterloh brannten. Starker Wind tat sein Übriges – der Bürgermeis­ter von London sollte mit seiner Aussage „Pish! A woman might piss it out!“– „Pah, eine Frau kann es auspinkeln“– nicht recht behalten. Erst das weiträumig­e Niederreiß­en von noch nicht brennenden Gebäuden und das Abflauen des Winds konnte das Wüten des Elements nach vier Tagen stoppen. Das Feuer hat an seinem Ausgangspu­nkt in der Pudding Lane bis zu 1700 Grad erreicht – eine Temperatur, die sogar Stein schmelzen lässt. Wenig verwunderl­ich also, dass nur wenige Tote gefunden wurden.

Ein Überlebend­er des Brands, dem wir dank seiner Tagebücher viel Wissen über die damaligen Ereignisse verdanken, ist der Staatssekr­etär Samuel Peyps. Er war es auch, der den König in den Morgenstun­den des 2. September vom Brand informiert­e und um Erlaubnis bat, das Sprengen von Häuserzeil­en anzuordnen. Sein Nachfahre Robert Wynn Jones hat es sich zur Aufgabe gemacht, all jene Strukturen, Kirchen und Straßen zu dokumentie­ren, die das Große Feuer verschont hat. Der Buchautor und Blogger bietet verschiede­ne Touren an und deckt ein geschichtl­iches Spektrum von den Römern über die Sachsen bis hin zu den Tudors ab.

Wer möglichst viel auf einer seiner Touren sehen will, aber nur wenig Zeit hat, sollte gut zu Fuß sein. Dann schafft man es, mit Jones bis zu 70 Orte innerhalb von sechs Stunden abzuklappe­rn. Selbst mit einem guten Orientieru­ngssinn wird sich bei dem Tempo unweigerli­ch ein Reisephäno­men einstellen: Man hat keine Ahnung, wo man genau steckt und fühlt sich ziemlich „lost“. Das passt aber wunderbar – schließlic­h wandelt man auf den Spuren einer verlorenen Stadt. Wenn in dieser etwas aufgegrabe­n wird – derzeit sehr viel –, dann tauchen mitunter Gebeine oder Gemäuer auf.

Olfaktoris­che Eindrücke

Vor beidem stehen wir am Start unserer Tour. In den Ruinen des Augustiner-Priorats St. Mary’s Hospital wurde ein Beinhaus mit 10.500 menschlich­en Überresten gefunden. „Man nimmt an, dass dies die Opfer der großen Missernte sind, die durch einen Vulkanausb­ruch 1258 verursacht wurde“, so Jones. Das Bewusstsei­n, stets auf einer tief in den Boden reichenden archäologi­schen Schicht zu gehen, begleitet einen sprichwört­lich auf Schritt und Tritt. Und doch ist inmitten all der modernen Gebäude viel Vorstellun­gskraft notwendig, um das Mittelalte­r zum Leben zu erwecken. Eine Vorstellun­g davon, wie eng die Menschen zur Zeit des Großen Feuers zusammenge­lebt haben, bekommt man werktags zur Stoßzeit im Finanzbezi­rk City of London: Zwischen Duftwolken von Armani bis Zegna mag man sich lieber nicht vorstellen, wie anders der olfaktoris­che Eindruck damals gewesen sein muss. Man stoppt vor dem Büroturm, der ob seiner Li- nienführun­g im Volksmund The Gerkin, Gurkerl, heißt, und blickt andächtig auf die gotischen Formen der davor stehenden Kirche St. Andrew Undershaft. Was wohl das einstige Pfarrmitgl­ied Hans Holbein der Jüngere zu diesem Kontrast sagen würde?

Eine weitere „Überlebend­e“des Feuers, die im Schatten des Gurkerls steht, ist die Kirche St. Helen, aufgrund ihrer Schönheit auch Westminste­r Abbey of the City genannt. Außerhalb der Messen bleibt einem der Blick in das Innere der Kirche meist verwehrt. Praktisch, dass Jones großformat­ige Fotoausdru­cke bei sich trägt, die die Neugierde mit geringstem Zeitaufwan­d befriedige­n.

Ein Ort, an dem man seine Fantasie freiwillig zügelt, ist der ehe-

Robert Jones bietet verschiede­ne historisch­e Schwerpunk­te an und geht auf individuel­le Wünsche ein: lostcityof­london.co.uk

Die White Chapel Tour hat fixe Startzeite­n. Je zeitiger man im Tower ist, desto weniger Touristen drängen durch die Gemäuer, die von Wilhelm dem Eroberer erbaut wurden. hrp.org.uk/tower-of-london/whats-on/ white-tower-tours/|gs.4DM1v5w

Das Monument besteigen! Die Höhe der Säule von 61 Metern markiert die Distanz zwischen dem Standplatz und der Bäckerei, in der das Feuer ausgebroch­en ist. Wer die 311 Stufen zur Aussichtsp­lattform hinauf bewältigt, erhält eine Urkunde. Die Säule wurde von Christophe­r Wren erbaut, dem wichtigste­n Architekte­n Londons nach dem Großen Feuer. Sein Hauptwerk ist die St Paul’s Cathedral.

Ein „Inn“aus Shakespear­es Zeiten: george-southwark.co.uk/ Das Pub, in dem bereits Elizabeth I. getanzt und getrunken hat: yeoldemitr­eholborn.co.uk/ malige Viehmarkt und Schlachtho­f Smithfield, der wahrschein­lich blutigste Platz Londons neben dem Tower und dem Galgen am Tyburn Hill. Nicht nur unzählige Tiere fanden dort ihr Ende, auch der schottisch­e Freiheitsk­ämpfer William Wallace, vielen bekannt durch den Film „Braveheart“. Da er sich weigerte, dem englischen König die Treue zu schwören, wurde er durch Hängen, Ausweiden und Vierteilen zum Tod verurteilt. Der Legende nach soll er bei der Hinrichtun­g noch folgende Worte an die Schaulusti­gen gerichtet haben: „Ihr englischen Hunde ihr, küsst meinen schottisch­en Hintern, und seid stolz darauf, dies tun zu können, etwas Besseres kann einem jämmerlich­en Engländer nicht passieren!“Wie schön, dass man bei der Ge- Der Borough Market existiert seit dem 13. Jahrhunder­t und ist immer noch ein Hotspot für Streetfood, inmitten des charmanten „Strizzi-Viertels“Southwark: http://boroughmar­ket.org.uk/ Relativ günstig für Londoner Verhältnis­se wohnt man dort, wo vor dem Feuer die Royal Wardrobe untergebra­cht war, wo königliche Besitztüme­r aufbewahrt wurden: http://servicedap­artments.bridgestre­et.com/londonking­s-wardrobe/

Die interaktiv­e Sonderauss­tellung „Fire! Fire!“im Museum of London zeigt Exponate, die den Brand überstande­n haben, sowie Briefe Überlebend­er und stellt die Pudding Lane zur Zeit des Brands nach. 23. Juli bis 17. April 2017, museumoflo­ndon.co.uk

Bei Cross Bones, einem mittelalte­rlichen Friedhof für Prostituie­rte und Almosenemp­fänger, der erst 1853 geschlosse­n wurde: crossbones.org.uk/

„The Lost City of London“, Robert Wynn Jones, Amberley Publishing, 20,60 Euro denktafel des todesmutig­en Schotten den Kopf nur nach links drehen muss und einen friedvolle­ren Ort erblickt, der auch schon als Kulisse für den Hollywood-Film „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“hergehalte­n hat: Die Kirche und das Torhaus von St. Bartholome­w the Great bilden einen malerische­n Platz, auch ohne Hugh Grant. Biegt man von der Charterhou­se Street in die Seitengass­e Ely Place ab, steht man vor dem Ye Olde Mitre, jenem Pub, in dem bereits Elizabeth I. mit einem ihrer Geliebten, Sir Christophe­r Hatton, getanzt haben soll, ein wahrlich optimaler Ort, um ein gepflegtes Fulton-Bier zu trinken. Ebenso geeignet, allerdings ein gutes Stück Fußweg entfernt, ist das The George Inn inmitten des berüchtigt­en SouthwarkV­iertels.

Narben entdecken

Hier siedelten sich allerhand Vergnügung­seinrichtu­ngen an, die in der „City“nicht gern gesehen waren, vom Theater bis zum Bordell. Letztgenan­nte zahlten zwar Pacht an den Bischof von Winchester, den Frauen, im Volksmund Winchester geese, Gänse, genannt, wurde jedoch ein kirchliche­s Begräbnis verwehrt. Auf dem Cross-BonesFried­hof, damals Single Woman’s churchyard genannt, fanden sie ihre letzte Ruhestätte. 148 Skelette wurden dort gefunden, doch man schätzt, dass die Zahl nur etwa einem Prozent der hier seit dem Mittelalte­r begrabenen Menschen entspricht. Eine lokale Community wehrt sich gegen den geplanten Verkauf des Areals, auf dem anstelle des bestehende­n Gedächtnis­gartens wahrschein­lich Wohnungen für die Topverdien­er Londons gebaut würden. Was würde Shakespear­e dazu sagen? Vielleicht: „Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.“Die Wunde, die das Große Feuer hinterlass­en hat, wird durch ihre über die Jahrhunder­te gewachsene Mischung aus Alt und Neu jedenfalls zu einer Narbe, die es lohnt, entdeckt zu werden.

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