Mit dem Oldtimer-Postbus zur Schlucht von Rosenlaui
Meiringen, ein hübscher Ort im Berner Oberland, ist im Winter bei Skifahrern beliebt. Im Sommer zieht es Urlauber in eine der tollsten Schluchten der Schweiz.
Es ist erst 10 Uhr, als wir in den Bus steigen, doch da zeigt das Thermometer schon 32 Grad. Eine schwülwarme Dunstglocke hat sich über das Tal gelegt. Die Luft im Bus ist zum Schneiden dick. Wie gut, dass die alten Schiebefenster zu öffnen sind. Dabei eröffnet sich auch ein wunderbarer Blick auf die Landschaft. Kühe weiden auf saftgrünen Wiesen, eine Käserei bietet in einem putzigen Verkaufsstand einheimischen Weichkäse feil. Hier gibt es den einheimischen Chästeleit zu probieren. Und eine kleine Fleischerei lockt mit Berner Zungenwurst.
Leider haben wir für einen Schlemmer-Exkurs keine Zeit. Unsere Fahrt geht weiter – und führt steil hinauf. Die Straße ist so schmal, dass selbst ein Kleinwagen nur mit Mühe passieren kann. Jede Kurve bedeutet Millimeterarbeit. Doch unser Fahrer ist geübt. „Kein Problem“, winkt er ab. „Das reicht locker.“Der Mann hat die Ruhe weg. Mit etwas Geschick manövriert er den Bus, Baujahr 1972, an einem entgegenkommenden Auto vorbei. Irgendwie finden die Schweizer immer ein Nadelöhr.
Immer wieder strömt ein unverwechselbarer Duft von Kräutern in den Wagen. Es riecht nach Thymian, Estragon und Salbei. „Da brauchst du nur einmal hineingreifen, dann hast du einen Salat“, witzelt ein Kollege im Bus. Ganz betört vom Geruch der Kräuter steigen wir an der Endstation der Linie aus, wo sich die Schlucht von Rosenlaui befindet. Der Fahrer hupt noch einmal zum Abschied, der Motor heult auf, und der Postbus tuckert wieder in Richtung Tal.
Die Wasserfälle sind Teil des Unesco-Weltkulturerbes. Der Aufgabe, dieses zu pflegen, hat sich Andreas Anderegg verschrieben. Sein Urgroßvater erschloss Anfang des letzten Jahrhunderts die Schlucht. 1902 sprengten Bauarbeiter und freiwillige Helfer mit 180 Paketen Dynamit und 9000 Schüssen einen Weg in den Felsen. Andereggs Urgroßvater war mit dabei, als die Schlucht ein Jahr später eröffnet wurde. Damals verlangte der Staat noch Ein- trittsgeld. „Frechheit!“, ärgert sich Anderegg. „Das Naturerbe gehört uns allen.“Heute zählt die Schlucht 20.000 Besucher pro Jahr, der Eintritt ist frei. „Es ist wie vor 1000 Jahren“, sagt Anderegg. Die Landschaft ist fast unberührt. Und darauf ist die Familie stolz. „Wir haben Freude an der Natur“, sagt er.
Donnernde Kaskaden
Wir begeben uns auf den Rundgang, den die Pyrotechniker vor mehr als 100 Jahren freigelegt haben. Der Pfad führt schneckenartig durch die Schlucht und windet sich in dunklen Grotten steil nach oben. Es ist eng und feucht. In gebückter Haltung tasten wir uns empor, schauen immer wieder hinauf auf die Kaskadenergüsse. Beeindruckend, mit welcher Wucht die Wassermassen sich in das Tal stürzen. Ein ungeheures Donnern grollt durch die Schlucht.
Man kann regelrecht zusehen, wie das Wasser das Gestein auswäscht und dabei bizarre Figuren schafft. Fast könnte man meinen, die Felswände seien von Künstlern kreiert worden. Wie zum Beispiel der Elefantenkopf, das Wahrzeichen der Schlucht. Oder eine Felsnase, die wegen ihrer Länge spöttisch De Gaulle genannt wird. Durch die Sonnenstrahlen, die in die Schlucht fallen, erhalten die Figuren eine eindrucksvolle Konturierung. Oben auf der Aussichtsplattform haben sich die Besucher mit sorgsam aneinandergereihten Steintürmchen verewigt, allesamt kleine Kunstwerke. Zur Erinnerung errichten auch wir ein kleines Monument. Und blicken ein letztes Mal in den Schlund der Schlucht, wo die Wassermassen in einen smaragdgrünen Fluss münden.
Auf dem Weg zurück ins Tal machen wir Halt im Hotel Rosenlaui, wo uns ein Mittagessen erwartet. Die Unterkunft wurde im Kolonialstil renoviert, in nostalgischen Salons stehen antike Sofas, die Leseecken sind holzgetäfelt. Auf der Terrasse servieren die Gastgeber eine üppige Holzplatte, die so groß ist, dass sie gleich von zwei Kellnerinnen getragen werden muss. Darauf: fein geschnittener Bergkäse, der mit seinem würzigen Geschmack dem italienischen Parmesan ähnelt. Scharfe Salami. Und natürlich ein Zopf. Beziehungsweise „Züpf“. So nennt man im Berner Oberland die kunstvoll geflochtenen Kränze. „Das gibt es bei uns eigentlich nur sonntags“, sagt Markus Gilgen vom Schweizer Tourismusverband, der unsere Reise begleitet.
Zur Vorspeise wird Orangensuppe gereicht, eine Spezialität des Hauses – und zur Nachspeise frische Honigmelonen. Bei so vielen Leckereien kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ob wir das überhaupt schaffen? „Ihr müsst alles aufessen. Sonst kommt ihr hier nicht weg“, sagt die Bedienung und lacht. Am Ende haben wir das herzhafte Mahl vollständig verzehrt. Gedauert hat es nicht lang. (A. Lobe)
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