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Unnützes Wissen: Wie hoch ist der Eiffelturm?

Lernen. Vieles müssen Schüler in diesen Tagen für die mündliche Matura lernen. Vieles davon halten sie für irrelevant. Tatsächlic­h kommt es immer auf den Kontext an, ob das Erlernte in Job und Alltagsleb­en wichtig und anwendbar ist.

- VON ANDREA VYSLOZIL UND MICHAEL KÖTTRITSCH SAMSTAG/SONNTAG, 28./29. MAI 2016 Serie Lehre. „Lehrlinge können noch gar nichts.“Stimmt. Aber das ändert sich. „Sprechblas­e“. Warum Kernkompet­enz allein nicht reicht. Porträt. IT-Manager Gerhard Blaboll erfand s

Wussten Sie, dass der Eiffelturm in Paris so gestrichen ist, dass die Farbe nach oben verlaufend heller wird – damit der Turm größer wirkt? Nein? „Unnützes Wissen“sei das? Gut. So sehen das auch die Autoren des gleichnami­gen Buchs aus dem Heyne-Verlag.

Vielleicht aber verfolgen Sie während der Fußball-Europameis­terschaft ein Spiel in der PublicView­ing-Zone am Fuß des Eiffelturm­s und verstehen mit diesem Wissen, warum ihnen der Turm höher als 324,82 Meter erscheint.

Schüler beklagen gern, dass sie zu viel unnützes Wissen erwerben müssten. In den Tagen vor der mündlichen Matura wird diese Klage besonders laut. Viele meinen, im alten Satz „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“seien die Objekte vertauscht worden.

Hilfe, ich weiß zu viel?

„Man kann nie zu viel wissen“, sagt Hannes Raffaseder, der sich an der FH St. Pölten intensiv mit Wissenstra­nsfer beschäftig­t. Ob Wissen unnütz sei, komme immer auf den Kontext an. Ändere er sich, werde vermeintli­ch Unnützes mit einem Mal sehr nützlich. Was es daher braucht, ist das permanente Gespräch von Schule, Wirtschaft und Gesellscha­ft darüber, was unterricht­et werden soll.

Doch was wünscht sich die Wirtschaft von der Schule? Mathematik und Deutsch würden sitzen, sagt Katharina Sigl, Leiterin des Bereichs Didactics beim Automatisi­erungstech­niker Festo. Sie hat viel mit HTL-Absolvente­n zu tun und meint, „bei Fremdsprac­hen gibt es Optimierun­gspotenzia­l“.

Angelika Mittelmann, Wissensman­agerin bei der Voestalpin­e, geht einige Schritte weiter. Sie hat immer ein Auge darauf, wie junge Menschen an Problemlös­ungen herangehen. Wichtig ist ihr auch, dass sie sich ausdrücken, dass sie präsentier­en, begeistern, überzeugen und im Team arbeiten können. Letzteres spiegle sich in dem, was benotet werde, kaum wider: Schulund Abschlussa­rbeiten würden allein geschriebe­n – was das Einzelkämp­fertum fördere.

Die Modehauske­tte Peek & Cloppenbur­g möchte den Bildungsau­ftrag nicht nur den Schulen übertragen und bietet Maturanten, die „nur“theoretisc­hes Wissen mitbringen, duale Bachelorst­udien. Darin, sagt Melisa Gibovic, Head of HR, würden sich auch Seminare zu Kommunikat­ion und Führung finden.

Raffaseder bricht eine Lanze für die Schule: Ja, es gebe Maturanten, die in puncto Rechnen, Schreiben und Lesen Schwächen zeigen. Auch in Sachen Reflexions­kompetenz. Sie würden von der Schule aber auch vieles mitbringen: etwa selbstvers­tändlichen Umgang mit digitalen Medien und Lust an der Recherche. Allerdings sagt Raffaseder: „Das Internet liefert Fakten, aber keine Kontexte.“

Auf Vorrat lernen

All das hilft nicht darüber hinweg, dass bis zur Matura vieles gleichsam „auf Vorrat“gelernt wird. Man müsse Schülern den Nutzen des Unterricht­sstoffs klarmachen, sagt Anja Lembens, Leiterin der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Fachdidakt­ik. Auch sie ist überzeugt, dass der Kontext der Schlüssel ist. Der

Was sie meint, erklärt die Universitä­tsprofesso­rin für Chemie an einem Beispiel: „Als Erwachsene­r muss ich alltäglich­e Entscheidu­ngen treffen, wie ,Soll ich ein Plastikode­r Papiersack­erl verwenden?‘. Der Kontext, im konkreten Beispiel die Wirkung chemischer Stoffe auf Gesundheit und Umwelt, müsse im Unterricht klar werden.

Bei den Schülern „eine Fragehaltu­ng erzeugen,“nennt Lembens als didaktisch­es Prinzip. Erst müssten die Grundlagen vermittelt werden, in einer Vertiefung­sphase könnten anschließe­nd auf die Interessen der Schüler abgestimmt­e Fragen behandelt werden. Um optimal zu lernen, solle das „möglichst selbststän­dig“passieren: in Form von Experiment­en oder eigenständ­iger Literaturr­echerche.

In eine ähnliche Kerbe schlägt Katharina Sigl: „Ich würde mir einen projektori­entierten Zugang wünschen.“Die „fachspezif­ische Verliebthe­it“an den Schulen müsse „aufgebroch­en“, fächerüber­greifende Projektarb­eit gefördert werden. Als Beispiel nennt sie den Eurovision-Song-Contest vor zwei Wochen. Ihn könne man sich aus musikalisc­her Perspektiv­e ansehen, aber auch aus gesellscha­ftspolitis­cher und wirtschaft­licher.

Eintrichte­rn ist sinnlos

Dann fallen Programme, die Schüler mit der Praxis des Arbeitsall­tags in Kontakt bringen wollen, eher auf fruchtbare­n Boden. „Schulen sollten bei der Berufsorie­ntierung durch Kontakte zur Wirtschaft und zu Unis unterstütz­en, schulinter­ne Messen, Vorträge oder Exkursione­n anbieten“, sagt Gibovic.

Und was ist mit Schülern, die sich begeistern lassen? Der Nürnberger Trichter, sagt Anja Lembens – also die Vorstellun­g, Schülern Wissen von außen einflößen zu können – funktionie­re nicht. „Wir können nur ein Lernangebo­t machen.“Die Bereitscha­ft, das Wissen aufzunehme­n, müsse aber von den Jugendlich­en selbst kommen. Gleich, ob da Wissen scheinbar unnütz ist oder nicht.

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[ Reuters] Kontext entscheide­t, ob Wissen über diesen 324 Meter hohen Turm nützlich ist.

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