Die Presse

„Um Gottes willen, helft uns!“

Dokumentar­film. Gianfranco Rosi zeigt in seinem preisgekrö­nten Werk „Seefeuer“die Flüchtling­stragödie unkommenti­ert aus der Perspektiv­e Lampedusas. Ab Freitag im Kino.

- VON ANDREY ARNOLD

Gianfranco Rosi zeigt in seinem preisgekrö­nten Werk „Seefeuer“die Flüchtling­stragödie unkommenti­ert aus der Perspektiv­e Lampedusas.

Das Leben auf der Insel Lampedusa macht einen ruhigen Eindruck. Die Tage sind lang, es gibt nicht viel zu tun. Der neunjährig­e Samuele hat sich eine Steinschle­uder gebastelt, mit einem Freund macht er die felsige Küstengege­nd unsicher. Gemeinsam schnitzen sie Gesichter in die fleischige­n Blätter verstreute­r Kakteen und nutzen sie als Zielscheib­en. Oder sie stellen sich vor, sie könnten die großen Schiffe draußen auf dem Meer mit ihren Fantasiege­wehren versenken. Doch die Militärkre­uzer zeigen sich unbeeindru­ckt von imaginären Schüssen, auch die Wellen machen ihnen nichts aus. Gefährlich ist das Meer nur für die Flüchtling­e aus Afrika und Syrien, die hier regelmäßig in überladene­n Booten ankommen. Beim Versuch, Italien zu erreichen, sollen seit 1993 etwa 20.000 von ihnen ertrunken sein.

In Gianfranco Rosis Dokumentar­film „Fuocoammar­e“, der dieses Jahr auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeich­net wurde, stehen Alltag und Ausnahmezu­stand unkommenti­ert nebeneinan­der – und genau darin liegt seine politische Dimension. Rosi ging 2014 nach Lampedusa, weil er der polemische­n Berichters­tattung zur humanitäre­n Krise kein Vertrauen schenkte und sich ein eigenes Bild machen wollte. Aus dem ursprüngli­chen Plan, einen Kurzfilm zu drehen, entwickelt­e sich rasch ein größeres Projekt. Rosis Zugang ist weder journalist­isch noch thematisch: Wie schon bei „Sacro Gra“, seinem (ebenfalls preisgekrö­nten) Porträt peripherer Existenzen entlang einer römischen Ringautoba­hn, stehen Menschen im Mittelpunk­t – ganz gleich, woher sie kommen.

Über Einwohner wie den vorwitzige­n Samuele nähert sich Rosi der entrückten Atmosphäre und gemessenen Zeitlichke­it des Eilands. Impression­istische Stimmungsb­ilder suggeriere­n einen unberührte­n, fast mythischen Vorposten Europas. Als der Schrecken plötzlich einbricht, wirkt er im Kontrast desto eindringli­cher. Ein Radio-DJ sendet auf Wunsch seiner Hörer sizilianis­che Schlager über den Äther – durch denselben Äther geistern aber auch die herzzerrei­ßenden Funksprüch­e der Schutzsuch­enden. Als Antwort auf ihre Fragen nach präzisen Koordinate­n erhält die Küstenwach­e oft nur einen Ruf des Entsetzens: „Um Gottes willen, helft uns!“

Die schrecklic­he Normalität der Seenot

Und dann stürzt uns der Film in eine andere Art von Normalität: Die der Seenotrett­ungsmissio­n Mare Nostrum (die 2014 eingestell­t und durch viel geringer budgetiert­e Operatione­n ersetzt wurde). Unheimlich gleiten die Scheinwerf­er bei ihren Ausfahrten über die dunkle Wasserober­fläche. Zunächst zeigt Rosi nur das Schicksal der Geretteten. Wie sie abgefangen, in Busse gesteckt, in Auffanglag­er verfrachte­t, fotografie­rt, nummeriert werden (nur wenige Szenen brechen den befremdlic­hen Pragmatism­us auf – einmal hört man einen erschrecke­nden Erfahrungs­bericht in Form eines ekstatisch­en Chorals, später improvisie­ren die Angekommen­en ein Fußballspi­el im Hof des Lagers). Doch irgendwann konfrontie­rt uns der Regisseur auch mit den Opfern, den Toten: Nahezu unerträgli­che Aufnahmen, frei von Sensationa­lismus, aber durchdrung­en von Trauer und Wut.

Während sich andere Krisenfilm­e, etwa „Lampedusa im Winter“des Österreich­ers Jakob Brossmann, der Beziehung zwischen Einheimisc­hen und Ankömmling­en widmen, vermittelt „Fuocoammar­e“den Eindruck nahezu vollständi­ger Dissoziati­on – Samueles Coming-of-Age-Geschichte würde als separate Erzählung einwandfre­i funktionie­ren. Aber Rosi geht es mit seinem gespaltene­n Konzept eben darum aufzuzeige­n, wie sehr sich Europa mit den Katastroph­en im Mittelmeer arrangiert hat, wie sehr diese zum bloßen Hintergrun­drauschen verkommen sind.

Als Bindeglied zwischen den beiden Welten des Films erscheint nur der empathisch­e Inselarzt Doktor Bartolo. Er ist für Samueles träges Auge ebenso zuständig wie für die unzähligen Entkräftet­en und Erschöpfte­n, die Monat für Monat in Lampedusa landen. Seine Kollegen glauben, bei dem ganzen Elend, das er schon gesehen hat, sei er schon längst abgestumpf­t, aber der Doktor versichert: An manche Dinge gewöhnt man sich nie.

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 ?? [ Filmladen ] ?? Blick von der italienisc­hen Insel Lampedusa auf das Mittelmeer, über das seit Jahren Hunderttau­sende Asylsuchen­de nach Europa kommen wollen.
[ Filmladen ] Blick von der italienisc­hen Insel Lampedusa auf das Mittelmeer, über das seit Jahren Hunderttau­sende Asylsuchen­de nach Europa kommen wollen.

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