Zu viel Sicherheit vermindert Wachstum
Gastkommentar. Mehr Sicherheit bedeutet für einen Investor, dass ein Aufschlag für vermeintliches Risiko berechnet werden muss. Doch nur, wenn die Investition trotz eines Risikoaufschlags auch rentabel ist, wird sie umgesetzt werden.
Europa und insbesondere auch Österreich leiden an niedrigen Wachstumsraten. Es sind vor allem zwei Faktoren, die zu dieser Entwicklung geführt haben. Die Zunahme der Arbeitsproduktivität verlangsamt sich seit Jahrzehnten und insbesondere in der letzten Krise. Parallel dazu sinken auch die öffentlichen und privaten Investitionen. Schließlich sind es Investitionen, insbesondere in Humankapital, die zu mehr Wachstum führen.
Dass wir dies in der öffentlichen Diskussion nicht immer so klar sehen, und dass wir vergessen, dass der Staat nur für zehn bis 15 Prozent der Gesamtinvestitionen verantwortlich ist, während die privaten Investitionen bis zu 90 Prozent der Gesamtinvestitionen ausmachen, erschwert den Einblick in diese Zusammenhänge.
Verminderte Investitionen
Warum hat sich die Bereitschaft von privaten Unternehmern und Konsumenten zu investieren im Lauf der letzten Jahrzehnte und insbesondere im Lauf der letzten Krise deutlich vermindert?
Das wohl beste Buch des letzten Jahrzehnts, „Why Nations Fail“(deutsche Übersetzung „Warum Nationen scheitern“) von Daron Acemoglu˘ und James A. Robinson, zeigt die Bedeutung von Rahmenbedingungen für die Wirtschaftsentwicklung und insbesondere auch für Investitionen.
Die meisten ökonomischen Modelle beschreiben ein Individuum durch eine sogenannte Nutzenfunktion; gemeint ist das Wohlbefinden des Individuums, das von mehreren Faktoren abhängt. In einem dynamischen makroökonomischen Modell müssen hier auch die Vielzahl an konsumierten Gütern und die zunehmende Freizeit berücksichtigt werden.
Zusätzlich könnte man ebenso den Wunsch nach mehr Sicherheit berücksichtigen. Im Rahmen eines solchen Denkmodells werden wachsende Gütermengen einen höheren Nutzen erzielen, wobei sich die Höhe des Beitrags zum Wohlbefinden verändern kann.
Das zweite Argument in der Nutzenfunktion ist die Freizeit. Klar ist, dass ein Anstieg der Freizeit zu einer Reduktion der Güterproduktion führen muss. Das heißt, bei steigendem Wohlstand müssen wir uns entscheiden, ob wir mehr Freizeit oder mehr Konsum wollen. Beides zu wollen ist zwar ein vielverbreitetes Wunschdenken, aus ökonomischer Sicht aber nicht zu empfehlen.
Das dritte Argument, die Sicherheit, ist ebenfalls mit beiden anderen Variablen verbunden. Mehr Sicherheit bedeutet für den Investor, dass ein Aufschlag für vermeintliches Risiko berechnet werden muss. Nur wenn die Investition trotz eines Risikoaufschlags rentabel ist, wird sie umgesetzt.
Streben nach mehr Sicherheit
Für den Arbeitnehmer bedeutet mehr Sicherheit, dass er etwa den Wechsel von einer Beschäftigung zur anderen weniger schnell durchführen wird. Man kann für dieses zunehmende Sicherheitsstreben viele Beispiele finden. Sicher ist, dass sie nicht wachstumsfördernd sind und Investitionen und somit auch die Schaffung von Arbeitsplätzen behindern.
Es scheint, dass eine Marktwirtschaft, die wachsen will, ein gewisses Maß an Unsicherheit benö- tigt. Modelle der zentralen Planung haben immer wieder betont, dass mit einer staatlich durchgeführten Ressourcenallokation und einer Ausschaltung des Markts die höchste Sicherheit für den Job und das Einkommen erreicht werden kann. Das mag vielleicht sogar stimmen, bringt aber mit sich, dass die Produktivität immer weiter sinkt, und dass das System immer innovationsfeindlicher wird.
Womit hat dies zu tun? Die Antwort haben in überzeugender Weise Acemogluˇ und Robinson gegeben, indem sie den Begriff der Anreize in den Vordergrund gestellt haben. Eine Zunahme der Sicherheit durch Sozialversicherungen, private Versicherungen und andere Institutionen lässt sich ökonomisch als Veränderung der Allokationsstruktur des oben skizzierten Individuums darstellen.
Wenn nämlich die Güterproduktion pro Kopf über Jahrzehnte ständig wächst, und durch diesen Fortschritt auch der Wunsch nach mehr Freizeit befriedigt werden kann, dann muss das zunächst zurückgebliebene Sicherheitsbedürfnis auch im erhöhten Maß befrie- digt werden. Die Ökonomen würden sagen, dass der Gesamtnutzen durch eine freie Wahl der drei genannten Argumente maximiert wird. So ist es zwingend notwendig, dass auch das Sicherheitsbedürfnis in entsprechendem Ausmaß Berücksichtigung findet.
Unvermeidbare Anpassungen
Wenn man dieser These folgt, ist es nicht überraschend, dass Sozialversicherungen, aber auch private Versicherungen in den letzten Jahrzehnten ein beispielloses Wachs- tum erlebt haben, aber auch viele Institutionen entstanden sind, wie etwa der Konsumenten- oder Mieterschutz, die ebenfalls Sicherheit in das tägliche wirtschaftliche Leben bringen sollen.
Wenn wir die institutionelle Entwicklung von Industrieländern beobachten, so zeigt sich, dass gelegentlich aus dieser Tendenz zu mehr Sicherheit ausgebrochen wurde, weil die behindernde Wirkung zu spürbar geworden ist. In einem solchen Fall müssen dann beispielsweise Kündigungsschutzgesetze angepasst und Transferund Steuersysteme verändert werden, um die wachstumshindernde Wirkung des Sicherheitsbedürfnisses zu vermindern.
Dass diese Entwicklungen mit politischen Richtungen identifiziert werden, ist wohl ein Zufall. Denn die fundamentalen Veränderungen, die die skizzierte Theorie mit sich bringt, würden unabhängig von der politischen Philosophie entsprechende Anpassungen erzwingen. Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts würde sonst gegen null gehen oder sogar negativ werden.
Arbeitsplätze wandern ab
Wir haben eingangs festgestellt, dass die Zunahme der Arbeitsproduktivität und die Investitionsquote seit langer Zeit sinken, und dass beide Entwicklungen einen negativen Einfluss auf das wirtschaftliche Wachstum haben. Allerdings besteht zwischen beiden Variablen ein enger Zusammenhang: Investitionen führen zum Ersatz von alten durch neue effizientere Maschinen und Produktionsprozesse.
Investitionen führen auch dazu, dass immer besser qualifizierte Mitarbeiter benötigt werden. Bei geringeren Investitionen verringert sich zudem der Produktivitätsfortschritt, weil die alten nicht durch neue effizientere Maschinen und Produktionsprozesse ersetzt werden. Weniger Investitionen bedeuten aber auch, dass Arbeitsplätze – für die keine spezielle Qualifikation erforderlich ist – in Billiglohnländer abwandern.
Geringere Investitionen führen also nicht nur zu einer gleichzeitigen Reduktion des wirtschaftlichen Wachstums, sondern sie reduzieren dieses für lange Jahre in der Zukunft.