Die Presse

Die Welt schwimmt im Geld – das Wachstum bleibt schwach

Konjunktur. China schwächelt, Europa müht sich ab, und selbst Amerika hat Probleme. Den Börsen ist das aber egal.

- VON NIKOLAUS JILCH

Wien. Die Märkte feiern trotz Brexit, TürkeiKris­e und Terror in Europa immer neue Höchststän­de. Dahinter steckt die extrem lockere Geldpoliti­k der Zentralban­ken, für die es in der Geschichte keine Beispiele gibt.

Die Zahlen sind astronomis­ch. Seit der Finanzkris­e haben die Zentralban­ken mehr als elf Billionen Dollar in den Markt gepumpt. Aktuell blasen die Europäisch­e Zentralban­k und die Bank of Japan gemeinsam rund 180 Mrd. Dollar pro Monat aus den Notenpress­en – mehr als je zuvor. Bankanalys­ten erwarten nach dem Brexit-Votum sogar noch eine weitere Ausweitung dieser Geldflut.

Dazu kommen extrem niedrige, oder sogar negative Zinsen. Inzwischen liegt die Rendite von Anleihen im Wert von rund 14 Billionen Dollar im negativen Bereich. Heißt: Anleger verlieren lieber Geld mit „sicheren“Staatsanle­ihen, als in Papiere mit höherem Risiko zu investiere­n. Die Zentralban­ken hoffen, dass sie der Realwirtsc­haft Zeit gekauft haben, um es den Märkten gleichzutu­n und sich zu erholen. Das geht aber nur zäh voran: Die Weltwirtsc­haft soll laut dem Institut für Höhere Studien (IHS) heuer um 3,2 Prozent wachsen. „Die Presse“gibt einen Überblick über die wichtigste­n Länder und Regionen.

Freilich: Der Brexit mischt die Karten noch einmal neu. In Großbritan­nien haben die Börsen zwar ihre Verluste wieder wettmachen können, das britische Pfund bleibt aber weiterhin überbewert­et. Das sagt der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF). Vor allem zusätzlich­e Handelssch­ranken (Tarife, Zölle), die im Zuge des britischen EU-Ausstiegs eingeführt werden könnten, sollen dem Pfund schaden. Die Auswirkung­en des Brexit auf die Realwirtsc­haft sind noch unklar. Tatsächlic­h machte die Wirtschaft des Vereinigte­n Königreich­s vor dem Brexit-Votum einen soliden Eindruck. In den drei Monaten bis Ende Juni wuchs sie noch um 0,6 Prozent, was einem gesunden Jahreswach­stum von 2,2 Prozent entspreche­n würde. Kommendes Jahr droht laut Goldman Sachs aber sogar eine Rezession.

In den USA feiern die Börsen die größte Party: Dow Jones und Co. reiten derzeit von einem historisch­en Höchststan­d zum nächsten. Unterstütz­t wird dies bizarrerwe­ise aber eher von einer Schwäche der Realwirtsc­haft. Denn die US-Notenbank Federal Reserve traut sich nach ihrem ersten Minizinssc­hritt im Dezember 2015 bisher keinen zweiten zu. Das Geld bleibt billig, die Börsenpart­y darf weitergehe­n. In der echten Welt herrscht aber Ernüchteru­ng. So haben die Amerikaner im zweiten Quartal deutlich weniger Geld in Restaurant­s ausgegeben, was einige Analysten aufgrund historisch­er Erfahrunge­n sogar als Warnzeiche­n für eine anstehende Rezession interpreti­eren. Gleichzeit­ig stabilisie­ren sich aber andere Sektoren der US-Wirtschaft. Auch die Federal Reserve zeigte sich vergangene Woche optimistis­ch – aber nicht zuversicht­lich genug, um die Zinsen zu heben. Die US-Konjunktur ist vergangene­s Jahr um 2,4 Prozent gewachsen. Heuer soll das Wachstum laut JP Morgan nur noch 2,2 Prozent betragen.

China war am Anfang dieses Jahres noch das große Sorgenkind des Planeten – aber die dortigen Börsenturb­ulenzen haben sich wieder beruhigt. Die chinesisch­e Währung, der Yuan, hat seit Jahresbegi­nn um rund sechs Prozent abgewertet. Das offizielle Wachstumsz­iel der kommunisti­schen Führung ist mit 6,5 bis 7,5 Prozent angegeben. Westliche Ökonomen gehen davon aus, dass das Wachstum heuer am unteren Ende dieser Bandbreite bleiben wird. Die chinesisch­e Wirtschaft befindet sich in einer Übergangsp­hase. Die KP wünscht sich mehr Nachfrage aus dem Inland, um weniger vom Export abhängig zu sein. Dass das noch nicht perfekt klappt, zeigen aber die Zahlen des USGetränke­riesen Coca-Cola. Zwar prangt auf den Flaschen und Dosen des Konzerns die weltweit bekanntest­e Marke überhaupt – trotzdem sind die Verkäufe in der China-Region zuletzt um zwei Prozent gefallen.

In Europa ist das Wachstum weiter schwach. Aber immerhin, es ist wieder da: Die Eurozone hat ihre Krise überstande­n – zumindest ist das die Message von EU und EZB. „Wir gehen von einem Wachstum von 1,5 Prozent aus“, sagt der EU-Chefökonom von Goldman Sachs, Huw Pill: „Das ist sicher nicht beeindruck­end – und der Brexit hat viel Unsicherhe­it reingebrac­ht, was einige Investment­s und auch die fragile Erholung in der EU gefährdet.“In Deutschlan­d – und auch in Österreich – läuft die Konjunktur aber wieder einigermaß­en stabil. Auch Italien soll, trotz Bankenkris­e, wieder wachsen – wenn auch nur schwach. Osteuropa übertrifft die Eurozone in Sachen Wachstumsr­aten weiterhin, was der EU insgesamt hilft zusammenzu­wachsen. Auch die Deflations­gefahr scheint gebannt, binnen drei Jahren will die EZB die Teuerung wieder knapp unter zwei Prozent sehen. Brexit, Bankenkris­e, Flüchtling­e und zunehmend leider auch Terrorismu­s gefährden aber die Erholung.

Fallende Ölpreise und wirtschaft­liche Sanktionen haben Russland vergangene­s Jahr eine heftige Rezession beschert: minus 3,7 Prozent. Der Rubel ist gefallen wie ein Stein. Die Weltbank geht aber davon aus, dass die Rezession sich heuer abschwäche­n wird. Ab 2017 soll das Wachstum zurückkehr­en – egal ob es dann noch Sanktionen gibt oder nicht. Die Herausford­erungen sind freilich enorm: 20 Millionen Russen leben unter der Armutsgren­ze. Und eine weiterhin hohe Inflation drückt die Kaufkraft der Russen weiter. Ein Problem, denn ähnlich wie China muss auch Russland seine Wirtschaft neu strukturie­ren. Weg von den Rohstoffen, hin zu einer „modernen Struktur“, wie Premier Dimitri Medwedew es kürzlich ausdrückte.

Auch Brasilien steckt in einer schweren Krise. Es sei die „schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren“, schreibt der „Economist“. Das BIP pro Kopf sei zuletzt sogar schneller gefallen als in der Hyperinfla­tionsperio­de zwischen 1981 und 1992, sagt Goldman Sachs. Die Zahl der Arbeitslos­en ist von sieben auf elf Millionen angestiege­n. Dazu kommt eine politische Krise im größten Land Südamerika­s. Interimspr­äsident Michel Temer muss das Land jetzt im Eiltempo umbauen. Staatsausg­aben werden zusammenge­strichen, nachdem sie in den vergangene­n Jahren im Schnitt um sechs Prozent gestiegen sind – viel schneller als die Wirtschaft. Das kaputte Pensionssy­stem dürfte überhaupt demontiert werden. Auch die überborden­de Bürokratie muss abgebaut werden. Selbst Privatisie­rungen werden nicht mehr ausgeschlo­ssen.

Nigeria ist die größte Volkswirts­chaft in Afrika – und befindet sich wegen der niedrigen Ölpreise in einer Rezession. Das könne aber auch eine Chance sein, sagt ein nigerianis­ches Wirtschaft­sinstitut. Denn ähnlich wie Russland sei Nigeria nun gezwungen, Alternativ­en zum Ölgeld zu suchen. „Die Regierung muss jetzt nach innen schauen. Sich nur auf ein Produkt zu verlassen ist nicht nachhaltig“, sagte Yemi Osinbajo, der Vizechef des Institute of Strategic Management of Nigeria. Es gäbe durchaus Wachstumsr­egionen, in denen es auch nicht zu Unruhen käme, weil die Löhne bezahlt werden. Laut Weltbank wird das Wachstum in Nigeria heuer von 2,7 auf 0,8 Prozent fallen. Bis 2018 soll es aber auf fast vier Prozent steigen.

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