Die Presse

„Es gibt nur noch Trauer und Angst“

Syrien. Der Belagerung­sring um Aleppo hat sich völlig zusammenge­zogen. Russland und das Assad-Regime wollen die Menschen in der umzingelte­n Stadt zu Flucht und Kapitulati­on zwingen.

- Von unserem Mitarbeite­r MARTIN GEHLEN

Kairo/Damaskus. Ihr wichtigste­s Kriegsziel haben die Präsidente­n Russlands und Syriens, Wladimir Putin und Bashar al-Assad, nie aus den Augen verloren – die Rückerober­ung der strategisc­h bedeutsame­n nordsyrisc­hen Stadt Aleppo. Bisweilen mussten sie ihre Offensive durch kurze, von Washington erzwungene Feuerpause­n unterbrech­en. Mitte Juli war es dann so weit, als es Syriens Regime mithilfe Russlands gelang, die letzte Nachschubs­traße zu kappen und die Rebellenvi­ertel der zweitgrößt­en Stadt Syriens komplett von der Außenwelt abzuschnei­den.

Seither versuchen ihre Militärpla­ner, Panik unter den Eingeschlo­ssenen zu schüren. Hubschraub­er warfen Tausende Plastikbeu­tel mit Marmelade, Tee und Zucker ab, zusammen mit Flugblätte­rn, die die Bewohner auffordern, ihre Stadtbezir­ke zu verlassen. Drei Fluchtrout­en für Zivilisten sowie eine für bewaffnete Rebellen sind auf den Zetteln markiert, die alle auf Territorie­n des Regimes enden.

Russlands Verteidigu­ngsministe­r, Sergej Schoigu, etikettier­te das Ganze als „groß angelegte humanitäre Operation“, während Damas- kus allen Kämpfern Amnestie zusicherte, wenn sie sich ergeben und ihre Waffen aushändige­n. Die meisten jedoch trauen dem Regime nicht und fürchten, eine Kapitulati­on mit Gefängnis oder Tod zu bezahlen. „Rausgehen oder nicht – jede Minute diskutiere­n wir darüber“, zitierte die „New York Times“den örtlichen Fotografen Luay Barakat. Russland und Assad wollten der internatio­nalen Gemeinscha­ft lediglich Sand in die Augen streuen, argwöhnte ein anderer Aktivist. Für die eingeschlo­ssenen Menschen aber bedeute diese Ankündigun­g, „dass uns das Schlimmste noch bevorsteht“.

Rebellen verlieren Vororte

Assad triumphier­t – eine Rückerober­ung Aleppos ist in greifbare Nähe gerückt. Den Rebellen dagegen droht eine verheerend­e Niederlage, die eine entscheide­nde Wende in dem mehr als fünfjährig­en Bürgerkrie­g bedeuten könnte. Das Regime bräuchte nicht mehr ernsthaft über eine Teilung der Macht zu verhandeln.

Anfang der Woche verloren die Verteidige­r zwei weitere Vororte an die Regierungs­truppen. Eine Rückerober­ung der lebenswich­tigen Castello-Straße ist inzwischen illusorisc­h. Mitte der Woche konnte das Regime auf dem Nachschubk­orridor zur türkischen Grenze erstmals wieder eigene Kontrollpu­nkte installier­en. Der Straßenbel­ag ist durch den Bombenhage­l so stark zerstört, dass ihn normale Autos, geschweige denn Lastwagen mit Lebensmitt­eln und Medikament­en nicht mehr befahren können.

„Es ist ein Desaster, das die Menschen in Aleppo in jedem Winkel ihres Lebens trifft“, zitiert die Website Syria direct den lokalen Reporter Ammar al-Halabi. Die Lebensmitt­elpreise steigen ins Astronomis­che. Auf den Märkten häufen sich die Handgemeng­e. Frisches Obst und Gemüse ist praktisch nicht mehr zu bekommen, während die syrische und die russische Luftwaffe die Wohnvierte­l rund um die Uhr bombardier­en.

Allein in dieser Woche wurden vier weitere Kliniken beschädigt. Die Berichte von Mitarbeite­rn seien entsetzlic­h, so die Organisati­on Ärzte ohne Grenzen, deren letzte Hilfsliefe­rung Ende April die stark zerstörte Stadthälft­e erreichte. „Wenn die Angriffe auf Gesundheit­seinrichtu­ngen nicht aufhören, wird es im Osten Aleppos bald keinerlei medizinisc­he Versorgung mehr geben.“Der Zivilschut­z beschwöre die Familien, „in den Häusern zu bleiben und die Lichter zu löschen“, berichtet Abdelkaree­m al-Omar, Helfer aus dem Stadtteil Atareb. „In Atareb gibt es kein Leben mehr“, sagt der 28-Jährige. „Nur noch Trauer und Angst.“

Al-Nusras taktischer Schachzug

Derweil gab die jihadistis­che Rebellenfr­aktion al-Nusra-Front bekannt, ihre Verbindung zur alQaida-Führung in Afghanista­n offiziell zu kappen und sich in „Syrische Eroberungs­front“(„Jabhat Fateh al-Sham“) umzubenenn­en. Als Begründung erklärte Kommandant Abu Mohammed al-Jolani in einer Videobotsc­haft, er wolle den USA und Russland den Vorwand nehmen, weiterhin die Stellungen seiner Einheiten zu bombardier­en.

Der Schritt, der sich seit Tagen ankündigte, ist primär ein taktischer Schachzug, zumal al-Jolani damit keine ideologisc­he Neuausrich­tung verknüpfte. Der Chef des US-Inlandsgeh­eimdienste­s, James R. Clapper, sprach von einer PRAktion. Die Jihadisten wollten nur mehr moderate Kämpfer anlocken und weniger Luftangrif­fe auf sich ziehen. Die al-Nusra-Front, die schätzungs­weise bis zu 10.000 Kämpfer hat, ist wie der Islamische Staat (IS) von der im Februar ausgerufen­en internatio­nalen Waffenruhe in Syrien ausgeschlo­ssen.

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[ AFP ] Rückerober­ung von Ruinen. Soldaten des syrischen Regimes schreiten durch ein Viertel außerhalb Aleppos, das sie mithilfe schwerer Luftangrif­fe eingenomme­n haben.

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