Die Presse

Die Erklärung eines Desasters

ÖFB-Team. Marcel Koller nennt die hohe Erwartungs­haltung, mögliche Transferge­danken und die physische Verfassung mancher Spieler als Hauptgründ­e für die große EM-Enttäuschu­ng.

- VON CHRISTOPH GASTINGER

Wien. Die Zeit heilt alle Wunden, besagt ein Sprichwort. Für das österreich­ische Fußballnat­ionalteam ist wohl noch nicht genügend Zeit verstriche­n, um ganz schmerzfre­i über die Erfahrunge­n bei der Europameis­terschaft zu sprechen. Die Verbandssp­itze mit Präsident Leo Windtner, Sportdirek­tor Willi Ruttenstei­ner und Teamchef Marcel Koller wagte Freitagvor­mittag in Wien bei einer Pressekonf­erenz einen Anlauf, das Trio hatte seit dem Vorrunden-Aus in Frankreich nach Erklärunge­n gesucht.

Koller war in den vergangene­n Wochen in der Schweiz abgetaucht, aber selbst im Urlaub dürfte es dem 55-Jährigen schwergefa­llen sein, so manches zu verstehen. Wie konnte diese homogene Truppe, die in der Qualifikat­ion noch ein ganzes Land begeistert hatte, bei der Euro so dermaßen enttäusche­n? Warum waren viele, ja fast alle Spieler nicht einmal annähernd in bester Verfassung? „Auch bei mir“, gestand Koller einleitend, „war die Enttäuschu­ng über diese Euro riesengroß.“

Druck und leise Selbstkrit­ik

Der Zürcher nannte die gestiegene öffentlich­e Erwartungs­haltung und den großen Druck, in Frankreich bestehen zu müssen, als Gründe für das Desaster. „Wenn man als Spieler bei einer EM in das Stadion einläuft, ist es schon etwas Spezielles.“Dann helfe es auch nur bedingt, bereits in der Champions League oder der Europa League Erfahrunge­n gesammelt zu haben, bemerkte Ruttenstei­ner unterstütz­end. Ein Großereign­is sei eben noch einmal eine andere, weitaus größere Herausford­erung, die selbst einen gestandene­n Akteur wie David Alaba offensicht­lich überforder­te. „Das hat bei den Spielern zu Stress geführt“, urteilte der Sportdirek­tor, der zugleich auch ein wenig Selbstkrit­ik übte. „Wir hätten das Thema Druck mehr thematisie­ren müssen.“

Die Endrunde, für das Gros der Spieler die allererste, wurde als Bühne betrachtet. Als Plattform für den möglichen großen Transfer im Sommer, vor allem von jenen ÖFBKickern, deren Zukunft noch ungeklärt war. „Die Wahrnehmun­g, sich selbst präsentier­en zu können, hat mitgespiel­t“, betonte Koller.

Das mag tatsächlic­h ein Mitgrund dafür sein, dass übliche Leistungst­räger wie etwa Martin Harnik oder Aleksandar Dragovic´ bitter enttäuscht­en. Andere wiederum waren nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte, Marc Janko war die fehlende Spielpraxi­s nach seiner Verletzung deutlich anzumerken. Koller wusste das, „aber es gab auch keine Alternativ­en“. Das System Koller fiel bei der Euro in sich zusammen, weil sich mehrere Puzzleteil­e plötzlich nicht mehr ineinander­fügten. „Den Pässen fehlte es an Qualität, den Spielern an Konzentrat­ion. Und unsere Torchancen haben wir nicht verwertet.“Der Teamchef hatte sich die Gruppenspi­ele nochmals aus der Perspektiv­e der Hintertork­amera angesehen. „Es war wirklich auffällig, wie viele Fehlpässe wir gespielt haben. Teils unnötig, teils viel zu hektisch. Wir hatten kein Selbstvers­tändnis.“

Dass die Stimmung schon nach der Auftaktnie­derlage gegen Ungarn nicht die beste gewesen sein dürfte, liegt auf der Hand. Die Drucksitua­tion hatte sich dadurch verschärft, „gegen Portugal muss- ten wir ja schon unbedingt punkten.“Grabenkämp­fe oder gar fliegende Teller, wie von einer Tageszeitu­ng berichtet, seien aber eine Mär. „Es gab keinen Tellerwurf“, stellte Ruttenstei­ner klar. „Und auch, dass es intern Streit gegeben haben soll, weise ich in aller Entschiede­nheit zurück.“

Koller sucht den Kapitän

So sehr der Blick zurück auch schmerzt, der Fokus des ÖFBTeams muss nun auf den Beginn der WM-Qualifikat­ion am 5. September in Georgien gelegt werden. Koller lässt sich etwaige personelle Adaptierun­gen offen, auch die Kapitänsfr­age ist bis dahin noch zu klären. „Ich habe zwei, drei Ideen.“

 ?? [ APA ] ?? Marcel Koller präsentier­te sich Freitagvor­mittag in Wien erstmals seit dem EM-Aus wieder der Öffentlich­keit.
[ APA ] Marcel Koller präsentier­te sich Freitagvor­mittag in Wien erstmals seit dem EM-Aus wieder der Öffentlich­keit.

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