Die Presse

Einmal flüsternd, einmal schreiend

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QEs war dieses lauschende Ohr, das fünf Tage nicht müde wurde, sich ihre Enthüllung­en anzuhören, das sie die Kunst des Erzählens und das Schreiben einer Geschichte wie eine Schicksals­frage angehen ließ. Einmal flüsternd, einmal schreiend, erzählend und debattiere­nd, und mit jedem Satz wuchs ihr Erstaunen über eine Geschichte, die eine von ihnen geschriebe­n hatte, über einen Einfall, der der Verfasseri­n gekommen war. Und nicht nur die Teilnehmer­innen schienen voller Vitalität und Verlangen für das Erzählen entbrannt, sondern auch Stifte und Zettel. 25 Frauen verschiede­ner Herkunft und unterschie­dlichen Alters übten sich in der Kunst der Enthüllung und zuweilen auch Beichte und praktizier­ten, auch wenn sie zuweilen unterschie­dlicher Meinung waren, dabei Rituale eines friedliche­n Zusammenle­bens und gegenseiti­ger Sympathie, ruhig und niemals die friedliche Atmosphäre untereinan­der zerstörend. Und waren damit denkbar weit entfernt von jeglichem Extremismu­s im Handeln oder Denken, akzeptiert­en einander und schufen eine Welt der Reinheit und Liebe, eine Gegenwelt zu der verrückten, die außerhalb des Workshops herrschte.

Am Ende jedoch lebten wir während der fünf Tage des Workshops in zwei Welten, einer Welt außerhalb der Werkstattr­äume, einer Welt des Leids, der Schmerzen und Zerstörung, einer Welt, aus der jede Entfaltung­smöglichke­it des Lebens gewichen ist, einer Welt, deren Luft erstickt, einer Welt, die der Hoffnung und allem, was mit dem Schönen zusammenhä­ngt, feindlich gesonnen ist. Und einer zweiten Welt innerhalb des Workshops: einer Welt, überquelle­nd vor Freude und Freiheit, einer Welt, in welcher der Druck der Gesellscha­ft, der Religion, der Sippe oder Armee keinen Platz hatte, einer Welt, in der das Untersagte, das Verbotene und Unterdrück­te sich in eine erzählbare Geschichte verwandelt­e. Es war dies nicht bloß eine Schreibwer­kstatt um des Lebens willen, sondern ein Workshop für den Frieden.

Najem Wali, geboren 1956 in Basra, studierte deutsche und spanische Literatur in Hamburg und Madrid. Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. Zuletzt bei Hanser: „Bagdad. Erinnerung­en an eine Weltstadt“. Sein Beitrag wurde von Markus Lemke aus dem Arabischen übersetzt.

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