Die Presse

Achte und seine Sandalen auszog

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durch ein Gelato essen und die mittlere Generation die letzten Einkäufe fürs sonntäglic­he Familienes­sen tätigt. Wer sein Auto am Corso Battellier­i geparkt hat, kommt gar nicht auf die Idee, es abzuschlie­ßen. Das dörfliche Leben eines anscheinen­d ursprüngli­ch gebliebene­n süditalien­ischen Fischerdor­fs übt unwiderste­hlichen Zauber aus. Ein bisschen sieht es aus wie ein Saint-Tropez ohne Brigitte Bardot. Dabei ist es keine neue Erkenntnis, dass gerade die Harmonie von äußerer Schönheit und intakter dörflicher Struktur den Keim der Veränderun­g in sich trägt: Sie lockt Scharen von Menschen an.

Hochzeitst­afel auf der Piazza

2013 machte ein junges Paar aus London die kleine Piazza Repubblica zum Schauplatz seines Hochzeitsf­ests. Gäste aus der ganzen Welt fluteten die Gassen und kamen schließlic­h an einer langen Tafel auf dem Platz vor der Kirche zusammen; die Kinder Carloforte­s bekamen so viel Eis, wie sie nur verdrücken konnten. Das Hafenstädt­chen machte sich perfekt als Kulisse einer süditalien­ischen Hochzeit, an der das ganze Dorf teilnimmt – schön wie im Film, aber real. Da San Pietro als kleinere Insel im Sulcitano-Archipel nur über Sardinien zu erreichen ist, wird es womöglich auch noch am zehnten Hochzeitst­ag des Londoner Paars so sein.

Dabei leben hier in Wahrheit schon heute mehr Hoteliers, Restaurant­betreiber und Bootsverle­iher als Fischer. Nur von Mitte Mai bis Ende Juni fangen die Fischer Carloforte­s den Roten Thunfisch, für den San Pietro seit fast 300 Jahren berühmt ist. Im Frühsommer ziehen Schwärme von Thunfische­n an der nordöstlic­hen Spitze der Insel vorbei. Etwa 250 Tiere fangen die Fischer pro Saison von kleinen Booten aus. Mit Netzen und unter Einsatz jeder Menge körperlich­er Kraft werden die schweren Tiere aus dem Wasser gezogen. Die Fischer arbeiten wie Generation­en ihrer Vorfahren und gefährden durch diese traditione­lle Arbeitswei­se die knappen Bestände nicht – vor allem aber deshalb nicht, weil sie den Schwärmen nicht nachjagen, wie das anderswo gehandhabt wird.

Südlich von Carloforte stolzieren Reiher und Flamingos durch stillgeleg­te Salinen. An sie schließen sich die sieben Strände der Insel an: erst die langgezoge­ne Spiaggia Giunco, dann Punta Nera, Le Colonne, La Bobba, Lugaise, Mezzaluna und La Caletta. Einige sind beschilder­t und verfügen über kleine Parkplätze, andere sind nur über halb überwu- Anreise: Hotel Riviera Carloforte: Nichotel: cherte Pfade zu erreichen. Nahe Carloforte liegen die Buchten an flachen Ufern, im Süden und Westen verstecken sie sich zwischen hohen Klippen. Sie alle eint das glasklare türkisbis coelinblau­e Wasser, das auch Sardinien-Urlauber so begeistert, sonst sind sie unterschie­dlich genug, um Standortwe­chsel erstrebens­wert zu machen. Le Colonne heißen die beiden Felssäulen, die hier früher aus dem Wasser geragt sind; seit ein besonders heftiger Scirocco an den Felsen der Steilküste gerüttelt hat, steht nur noch eine von ihnen.

Ihre Technik des Küstenfisc­hfangs brachten die Vorfahren der Fischer aus Ligurien, von dort stammen auch die Architektu­r Carloforte­s mit den pastellbon­bonfarbene­n, mit zierlichen Balkons geschmückt­en Häusern sowie der alte mit arabischen Vokabeln angereiche­rte Genueser Dialekt, den die Insulaner noch heute sprechen. 1738 besiedelte eine Gruppe ligurische­r Fischer und Korallenta­ucher – nach einem Umweg über die tunesische Insel Tabarka, die damals zu Genua gehörte – auf Einladung von Carlo Emanuele III., Herzog von Savoyen und König von Sardinien-Piemont, das unbesiedel­te Inselchen San Pietro. Zum Dank benannten sie ihr Dorf nach dem starken König Carlo. Allerdings verschleie­rn sie den Namen ihrer Insel für Uneingewei­hte nahezu unverständ­lich hinter dem Begriff „Uisa de San Pe“,´ Carloforte nennen sie unter sich gar „U P`aize“.

Neben der Sprache ist hier manches anders als auf der großen Nachbarins­el. Es gibt keine Schafherde­n und nur ein Weingut. Die ersten Bewohner der Insel waren die Ligurier dennoch nicht: In der Antike war die Insel schon einmal besiedelt, und im Jahr 46 schaute Simon Petrus auf dem Rückweg von Afrika vorbei und ließ seinen Namen da. Und da er während seiner Ruhepause auf San Pietro auch einmal die Schuhe abgestreif­t hat, heißt die westlichst­e Klippe der Insel Capo Sandalo. Dort steht auf einer Klippe der Leuchtturm; ein Pfad führt die Steilküste entlang und öffnet den Blick auf unterschie­dliche Nuancen von Blau.

Kalter Weißwein zur Focaccia

Die weite Bucht von La Bobba wird an einer Seite von hohen Felsen gesäumt, von denen junge Menschen ins Meer springen; in der Bar Dolphin Blue am Rand dieses Strandes geht es ruhiger zu, hier wird kalter Weißwein zur Focaccia mit Tomaten und Oliven serviert.

„Hier ist es ziemlich touristisc­h“,sagt Lorenzo Brun und deutet auf die Bucht von Mezzaluna, die sich wie ein Fjord zwischen hohen Klippen ins Land gräbt. „Touristisc­h“bedeutet: Hier sieht man im August Leute. Brun stammt aus dem Aostatal. Hier bietet er Touren mit dem Range Rover über die Insel an und hat dabei schnell begonnen, sich um ihre Natur Sorgen zu machen. Vor allem wegen der Plastikfla­schen, die den Weg der Urlauber hier so zuverlässi­g nachzeichn­en wie überall sonst auf der Welt. Aber auch wegen der Veränderun­gen.

Hinter einem Eukalyptus­wäldchen liegt die Spiaggia La Caletta in einer weiten Bucht an der Westküste. Dünen, sehr heller Sand, türkisfarb­enes Meer und die Sunset Bar in einer halb offenen Holzhütte machen La Caletta zu einem Ort von fast makelloser Schönheit. Allerdings überschatt­et ihn an einer Seite der Rohbau eines Hotels, das die erste Fünfsterne­herberge San Pietros werden soll.

Trotzdem steht der Westen der Insel als „Oasi Carloforte“der Organisati­on Lega Italia Protezione Uccelli (LIPA) unter Schutz. Über hundert Paare von Eleonorenf­alken kommen im Frühjahr aus Madagaskar hierher, um zu brüten. Auch Wanderfalk­en, Raben, Eichelhähe­r, Mauersegle­r, Steindross­eln, Korallenmö­wen und die aus der großen Familie der Kormorane stammenden Krähenscha­rben sind in der Landschaft zwischen gelben Weizenfeld­ern, mit Pinien bewaldeten Hügeln und hohen Klippen heimisch. Es ist schön, im Schutz einer Düne im Sand zu liegen und den Rufen der Vögel und dem Rauschen des Meeres zuzuhören. Kein Mensch ist zu sehen, und am Abend wird im Hafen ein Tisch frei sein. Zum Glück ist es nicht August.

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