Eine Medaille für den meisterhaften Manipulator
Gastkommentar. Wladimir Putin schafft es, selbst eine internationale Demütigung noch in einen Propagandasieg des Kreml umzuwandeln.
An diesem Freitag werden auch Russen unter den Athleten sein, die sich bei der Eröffnungszeremonie der olympischen Sommerspiele 2016 im Maracana-˜Stadion in Rio de Janeiro hinter ihren nationalen Fahnen versammeln. Das wäre beinahe nicht passiert. Trotz der Enthüllungen der Welt-Anti-Doping-Agentur über groß angelegtes und staatlich gefördertes Doping in Russland konnte eine Sperre der russischen Sportler gerade noch verhindert werden.
Die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees, die russische Teilnahme nicht vollständig zu verbieten, sondern es stattdessen den einzelnen Sportverbänden zu überlassen, jeden einzelnen Athleten zu überprüfen und zu entscheiden, wer teilnehmen kann und wer nicht, wurde von einigen mit Enttäuschung, von anderen mit Erleichterung aufgenommen. Für den russischen Prä- sidenten Wladimir Putin, der äußerst geschickt darin ist, auch die schlimmste internationale Demütigung in einen Propagandasieg des Kreml umzuwandeln, wäre keine der beiden Optionen besonders schlimm gewesen.
Was kommt nach Rio?
Natürlich sind die Olympischen Spiele – und besonders Medaillen – für Putin sehr wichtig. Wie seine alten sowjetischen Meister verbindet er sportliche Erfolge mit militärischen Erfolgen. Daher hatte er sich dafür eingesetzt, die Winterspiele in Sotschi auszurichten. Die Spiele kosteten so viel wie nie zuvor, 50 Milliarden US-Dollar. Aber es hat sich gelohnt: Russland gewann die meisten Medaillen. In diesen Spielen in Sotschi liegt allerdings auch der Kern des Dopingskandals.
Das soll nicht heißen, dass sportliche Erfolge militärische ersetzen würden. Während der Sommerspiele in Peking 2008 (Russland stand damals in der Medaillenrangsliste nach China und den USA an dritter Stelle) erregte Russland die Aufmerksamkeit der Welt mit seinem Blitzkrieg in Georgien. Nach Sotschi griff Putin aus Wut über die Amtsenthebung des prorussischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch nach geostrategischem Gold, annektierte die Krim und installierte separatistische Stellvertreter in der OstUkraine.
Was wird nach Rio geschehen? Die Republik Moldau, die sich um eine Annäherung an den Westen bemüht, soll als Nächstes auf Putins Liste stehen. Die Übernahme von Transnistrien, einer prorussischen Enklave an der ukrainischen Grenze, wäre eine wirtschaftliche Herausforderung für Russland, das noch immer unter Ölpreisverfall und den Sanktionen des Westens leidet, die ihm wegen der Krim-Annexion auferlegt wurden. Aber es wäre auch eine große Geste – und Putin liebt große Gesten.
Belarus ist ein weiteres mögliches Opfer der revanchistischen Kampagnen Putins. Das Land
unter der Führung Alexander Lukaschenkos, der seit 1994 als Präsident amtiert, steckt im Prinzip bereits in der Tasche des Kreml. Aber Lukaschenko versucht schon seit geraumer Zeit, Russland gegen den Westen auszuspielen, um die besten Abkommen für sein Land zu erzielen. Seit der Annektierung der Krim hat er sich dem Westen noch weiter zugewandt, obwohl das Drehen Russlands am Ölhahn schon ausreichen könnte, um Lukaschenko zu zwingen, seine Politik noch einmal zu überdenken.
Für die Republik Moldau oder Belarus könnten die Enthüllungen über das russische Doping-Programm und der Beinahe-Ausschluss Russlands von den Olympischen Spielen eine schlechte Nachricht sein, da Putin sie passend für sein Narrativ der ständigen antirussischen Intrigen des Westens bereits zurechtschneidet. Der Kreml und Sportminister Vitalij Mutko haben Gregory Rodschenko, dem ehemaligen russischen Anti-Doping-Beamten, der zum Whistleblower geworden ist, bereits vorgeworfen, ein Handlanger des Westens zu sein.
Einmal Spion, immer Spion
Dazu kommt noch die jüngste Entscheidung der Nato, kleinere militärische Einheiten nach Osten zu schicken, um Polen und die baltischen Staaten zu beruhigen. Russland könnte durchaus entscheiden, es sei jetzt an der Zeit, eine größere Pufferzone zwischen sich und dem Westen zu schaffen.
Putin ist ein früherer KGBAgent, der sich natürlich nicht für den Doping-Skandal entschuldigen wird. Wie jeder Spion weiß, sind Lug und Betrug im Dienst für den Staat nicht nur akzeptabel, sondern der eigentliche Zweck der Geheimdienste. Passenderweise wurde das staatlich geförderte Dopingsystem vom Inlandsgeheimdienst FSB überwacht, Nachfolger des KGB.
Wie Spione haben auch starke Männer wenig für fair play übrig – und Putin ist beides. Keine Propagandamaschine kann in einem Land funktionieren, in dem die Politik frei, fair, ehrlich und transparent ist. Und Propaganda ist wichtig, damit ein führender Politiker Macht in dem Maße konsolidieren kann, in dem es Putin getan hat.
Kein bisschen anders
Aber in Putins Weltsicht ist er selbst kein bisschen anders als andere Staats- und Regierungschefs, ob Demokraten oder nicht. Die vor einiger Zeit bekannt gewordenen Panama-Papers haben offengelegt, dass alle, vom Premierminister Islands bis hin zum Vater des ehemaligen britischen Premierministers, David Cameron, Konten in Steuerparadiesen und Briefkastenfirmen nutzen, um Wohlstand zu verbergen und Steuern zu hinterziehen. Enge Vertraute Putins waren nur einige Namen auf einer langen Liste.
Wenn Putin also erwischt wird, ist das allenfalls ein Missgeschick für ihn. Und wegen Betrugs bestraft zu werden, zeigt nur die Doppelmoral derjenigen, die ihn bestrafen. In diesem Sinn wäre ein Ausschluss der russischen Sportler innenpolitisch für Putin fast noch besser gewesen – jedoch noch schlimmer für jene Länder, auf die er gerade ein Auge geworfen hat.
Jetzt, da die sportlichen Träume Russlands wiederbelebt wurden, ist Putin möglicherweise bis zu einem gewissen Grad bereit, sein Streben nach militärischen Erfolgen vorerst aufzugeben. Auch, weil er befürchten muss, dass die Fußballweltmeisterschaft, die 2018 in Russland stattfinden soll, verlegt werden könnte. Und tatsächlich hat Putin so getan, als nehme er die Dopingvorwürfe ernst. Aber auch dieser Schachzug zielt nur darauf ab, den Ruf Putins zu stärken, sich nie äußerem Druck zu beugen.
Die Botschaft des Kreml
Die Botschaft ist, dass Russland auch angesichts der Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt, Anstand und Generosität zeigt. In der Zwischenzeit sorgt die Tatsache, dass sich russische Sportler in Rio „unfairen“Sonderprüfungen unterziehen müssen, für die perfekte Ausrede, falls sie nicht so gut abschneiden. Denn daran kann es keinen Zweifel geben, dass Putin ein meisterhafter Manipulator ist.
Die Frage ist freilich, ob Russland es sich aus Sorge vor härteren internationalen Repressalien tatsächlich zwei Mal überlegen würde, ehe es ein weiteres Mal daranginge, das Völkerrecht zu brechen wie schon im Frühjahr 2014.