Die Presse

Türkei will Visafreihe­it erzwingen

Flüchtling­skrise. Ankaras Drohung, keine Syrer aus Griechenla­nd zurückzune­hmen, klingt gefährlich­er, als sie ist. Doch die Türkei kann die EU unter Druck setzen, indem sie Flüchtling­e nach Europa weiterschi­ckt.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Brüssel/Ankara. „Es kann Mitte oder Ende Oktober sein, aber wir erwarten ein festes Datum“– mit diesen Worten läutete Mevlüt C¸avus¸og˘lu die nächste Runde der europäisch­en Flüchtling­skrise ein. Der vom türkischen Außenminis­ter in einem Interview mit der „FAZ“genannte Termin bezieht sich auf die EU-Visafreihe­it für türkische Staatsbürg­er, die Teil des im März fixierten Pakts zwischen Brüssel und Ankara ist: Im Gegenzug für die Kooperatio­nsbereitsc­haft bei der Sicherung der griechisch­en Grenze durch die Türkei hat sich die Union dazu verpflicht­et, die EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit Ankara voranzutre­iben, sechs Milliarden Euro für die Unterbring­ung der syrischen Flüchtling­e in der Türkei bereitzust­ellen – sowie die bereits angesproch­ene Reisefreih­eit für türkische Staatsbürg­er zu gewähren.

Am Montag war in den EU-Hauptstädt­en demonstrat­ive Gelassenhe­it angesagt: Während man in Berlin keine Drohung vernommen haben wollte, warnte der österreich­ische Außenminis­ter, Sebastian Kurz (ÖVP), davor, sich von Ankara erpressen zu lassen. In Brüssel wiederum verwies man auf den 72 Punkte umfassende­n Anforderun­gskatalog, den die Türkei umsetzen muss, um von der Visapflich­t befreit zu werden – einige Punkte, allen voran die Novellieru­ng des umstritten­en Antiterror­gesetzes, sind noch ausständig. Ob Europa prinzipien­treu bleiben wird, ist allerdings noch offen. Im Konflikt mit der Türkei gibt es mindestens vier mögliche Szenarien.

1 Viel Lärm um nichts: Die EU bleibt standhaft, Ankara hört mit dem Säbelrasse­ln auf.

In der aus EU-Perspektiv­e bevorzugte­n Variante sind die Drohungen nichts anderes als Theaterdon­ner für das durch den Putschvers­uch verunsiche­rte Heimatpubl­ikum. Sobald die Regierung in Ankara wieder fest im Sattel sitzt, wird sie zum Tagesgesch­äft übergehen und die ausständig­en Punkte des Abkom- mens mit der EU umsetzen, so die – zugegebene­rmaßen wenig realistisc­he – Hoffnung. Angesichts des Vorgehens gegen vermeintli­che Putschiste­n, Regimekrit­iker und Andersdenk­ende erscheint eine Antiterror­gesetzEnts­chärfung unwahrsche­inlicher denn je. 2 Erfolgreic­he Erpressung: Die EU gibt nach und erfüllt die türkischen Forderunge­n. Das aus türkischer Sicht erfreulich­ste Szenario lautet wie folgt: Brexit und Terroransc­hläge haben der EU das Rückgrat gebrochen. Um sich die Flüchtling­e vom Hals zu halten, erfüllt die Union alle Forderunge­n – angefangen mit der Reisefreih­eit. Diese Variante hat allerdings drei Schwachste­llen: Erstens war die Begeisteru­ng für die Visalibera­lisierung in diversen EU-Hauptstädt­en von vornherein enden wollend. Zweitens fürchten sich die Europäer mittlerwei­le davor, dass dann immer mehr Türken in der EU um Asyl ansuchen. Und drittens wissen sie, dass ein Nachgeben Ankara dazu verleiten würde, neue Forderunge­n zu stellen. Bereits im Mai hat die Türkei kurz mit der Forderung aufhorchen lassen, die EU möge die zugesagten Milliarden nicht an Hilfsorgan­isationen, sondern direkt nach Ankara überweisen – weil die Regierung am besten wisse, wo das Geld benötigt werde.

3 Die Türkei macht Ernst und nimmt keine Flüchtling­e zurück.

C¸avus¸og˘lus Drohung klingt zwar dramatisch, doch de facto gibt es derzeit kaum Flüchtling­e, deren Rücküberna­hme die Türkei verweigern könnte. So gut wie alle Neuankömml­inge suchen in Griechenla­nd um Asyl an, was die Asylbehörd­en überlastet und für lange Wartezeite­n sorgt. Von den rund 13.000 in den ersten fünf Monaten des Jahres gestellten Asylanträg­en wurden bis dato knapp 600 abgearbeit­et, berichtete die griechisch­e Tageszeitu­ng „Ekathimeri­ni“vor wenigen Tagen. Zudem gab es viel mehr positive Asylbesche­ide, als von der EU ursprüngli­ch erwar- tet wurde. Von der avisierten automatisc­hen Rücküberfü­hrung aller Neuankömml­inge ist man ohnehin meilenweit entfernt, daher ist das Drohpotenz­ial überschaub­ar. C¸avus¸og˘lu selbst gab zu, dass bisher lediglich 468 Migranten zurückgesc­hickt wurden.

4 Totale Konfrontat­ion: Die Türkei löst neue Flüchtling­swelle nach Europa aus.

Die Lage würde sich allerdings schlagarti­g ändern, sollte die Türkei den Konflikt auf die Spitze treiben und Flüchtling­e zur Reise nach Griechenla­nd ermutigen – worauf Staatschef Recep Tayyip Erdogan˘ bereits mehrmals anspielte. Mehr als zwei Millionen Syrer (die Schätzunge­n liegen weit auseinande­r) halten sich derzeit in der Türkei auf. Und seit dem Putschvers­uch Mitte Juli hat sich die Zahl der täglichen Neuankünft­e auf den griechisch­en Ägäis-Inseln auf durchschni­ttlich 100 verdreifac­ht. Mit der Eskalation wäre die Annäherung der Türkei an Europa wohl definitiv hinfällig – und dann würde sich weisen, ob das Vorgehen der türkischen Grenzschüt­zer oder die von Österreich betriebene Schließung der Balkanrout­e für das Abebben der Flüchtling­swelle verantwort­lich war.

 ?? [ Petros Karadjias/picturedes­k.com ] ?? Letzte Ausfahrt Europa? Die Distanz zwischen der Türkei und der EU hat sich seit dem Putschvers­uch vergrößert. Mit jeder Drohung aus Ankara werden die Gräben tiefer.
[ Petros Karadjias/picturedes­k.com ] Letzte Ausfahrt Europa? Die Distanz zwischen der Türkei und der EU hat sich seit dem Putschvers­uch vergrößert. Mit jeder Drohung aus Ankara werden die Gräben tiefer.

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