Türkei will Visafreiheit erzwingen
Flüchtlingskrise. Ankaras Drohung, keine Syrer aus Griechenland zurückzunehmen, klingt gefährlicher, als sie ist. Doch die Türkei kann die EU unter Druck setzen, indem sie Flüchtlinge nach Europa weiterschickt.
Brüssel/Ankara. „Es kann Mitte oder Ende Oktober sein, aber wir erwarten ein festes Datum“– mit diesen Worten läutete Mevlüt C¸avus¸og˘lu die nächste Runde der europäischen Flüchtlingskrise ein. Der vom türkischen Außenminister in einem Interview mit der „FAZ“genannte Termin bezieht sich auf die EU-Visafreiheit für türkische Staatsbürger, die Teil des im März fixierten Pakts zwischen Brüssel und Ankara ist: Im Gegenzug für die Kooperationsbereitschaft bei der Sicherung der griechischen Grenze durch die Türkei hat sich die Union dazu verpflichtet, die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara voranzutreiben, sechs Milliarden Euro für die Unterbringung der syrischen Flüchtlinge in der Türkei bereitzustellen – sowie die bereits angesprochene Reisefreiheit für türkische Staatsbürger zu gewähren.
Am Montag war in den EU-Hauptstädten demonstrative Gelassenheit angesagt: Während man in Berlin keine Drohung vernommen haben wollte, warnte der österreichische Außenminister, Sebastian Kurz (ÖVP), davor, sich von Ankara erpressen zu lassen. In Brüssel wiederum verwies man auf den 72 Punkte umfassenden Anforderungskatalog, den die Türkei umsetzen muss, um von der Visapflicht befreit zu werden – einige Punkte, allen voran die Novellierung des umstrittenen Antiterrorgesetzes, sind noch ausständig. Ob Europa prinzipientreu bleiben wird, ist allerdings noch offen. Im Konflikt mit der Türkei gibt es mindestens vier mögliche Szenarien.
1 Viel Lärm um nichts: Die EU bleibt standhaft, Ankara hört mit dem Säbelrasseln auf.
In der aus EU-Perspektive bevorzugten Variante sind die Drohungen nichts anderes als Theaterdonner für das durch den Putschversuch verunsicherte Heimatpublikum. Sobald die Regierung in Ankara wieder fest im Sattel sitzt, wird sie zum Tagesgeschäft übergehen und die ausständigen Punkte des Abkom- mens mit der EU umsetzen, so die – zugegebenermaßen wenig realistische – Hoffnung. Angesichts des Vorgehens gegen vermeintliche Putschisten, Regimekritiker und Andersdenkende erscheint eine AntiterrorgesetzEntschärfung unwahrscheinlicher denn je. 2 Erfolgreiche Erpressung: Die EU gibt nach und erfüllt die türkischen Forderungen. Das aus türkischer Sicht erfreulichste Szenario lautet wie folgt: Brexit und Terroranschläge haben der EU das Rückgrat gebrochen. Um sich die Flüchtlinge vom Hals zu halten, erfüllt die Union alle Forderungen – angefangen mit der Reisefreiheit. Diese Variante hat allerdings drei Schwachstellen: Erstens war die Begeisterung für die Visaliberalisierung in diversen EU-Hauptstädten von vornherein enden wollend. Zweitens fürchten sich die Europäer mittlerweile davor, dass dann immer mehr Türken in der EU um Asyl ansuchen. Und drittens wissen sie, dass ein Nachgeben Ankara dazu verleiten würde, neue Forderungen zu stellen. Bereits im Mai hat die Türkei kurz mit der Forderung aufhorchen lassen, die EU möge die zugesagten Milliarden nicht an Hilfsorganisationen, sondern direkt nach Ankara überweisen – weil die Regierung am besten wisse, wo das Geld benötigt werde.
3 Die Türkei macht Ernst und nimmt keine Flüchtlinge zurück.
C¸avus¸og˘lus Drohung klingt zwar dramatisch, doch de facto gibt es derzeit kaum Flüchtlinge, deren Rückübernahme die Türkei verweigern könnte. So gut wie alle Neuankömmlinge suchen in Griechenland um Asyl an, was die Asylbehörden überlastet und für lange Wartezeiten sorgt. Von den rund 13.000 in den ersten fünf Monaten des Jahres gestellten Asylanträgen wurden bis dato knapp 600 abgearbeitet, berichtete die griechische Tageszeitung „Ekathimerini“vor wenigen Tagen. Zudem gab es viel mehr positive Asylbescheide, als von der EU ursprünglich erwar- tet wurde. Von der avisierten automatischen Rücküberführung aller Neuankömmlinge ist man ohnehin meilenweit entfernt, daher ist das Drohpotenzial überschaubar. C¸avus¸og˘lu selbst gab zu, dass bisher lediglich 468 Migranten zurückgeschickt wurden.
4 Totale Konfrontation: Die Türkei löst neue Flüchtlingswelle nach Europa aus.
Die Lage würde sich allerdings schlagartig ändern, sollte die Türkei den Konflikt auf die Spitze treiben und Flüchtlinge zur Reise nach Griechenland ermutigen – worauf Staatschef Recep Tayyip Erdogan˘ bereits mehrmals anspielte. Mehr als zwei Millionen Syrer (die Schätzungen liegen weit auseinander) halten sich derzeit in der Türkei auf. Und seit dem Putschversuch Mitte Juli hat sich die Zahl der täglichen Neuankünfte auf den griechischen Ägäis-Inseln auf durchschnittlich 100 verdreifacht. Mit der Eskalation wäre die Annäherung der Türkei an Europa wohl definitiv hinfällig – und dann würde sich weisen, ob das Vorgehen der türkischen Grenzschützer oder die von Österreich betriebene Schließung der Balkanroute für das Abebben der Flüchtlingswelle verantwortlich war.