Terroristen oder Teufelskerle?
Armenien. Eine glimpflich beendete Geiselnahme in Jerewan macht gesellschaftliche Gräben sichtbar. Ein Teil der Bürger fand Gefallen an der Aktion, da sie wunde Punkte der Elite berührte.
Wien/Jerewan. Die Geiselnahme in Armeniens Hauptstadt, Jerewan, endete verhältnismäßig glimpflich: Zwei getötete Polizisten, mehrere verletzte Geiselnehmer, etwa 20 verhaftete Kidnapper – so lautet die Bilanz des zwei Wochen dauernden Nervenkrieges. Doch obwohl die Aktion nicht zum Blutbad führte, sind die politischen Gräben in dem drei Millionen Einwohner zählenden Land sichtbar wie nie zuvor – und die Frage nach der Vermittlung zwischen den Lagern offen.
Eingeleitet hatte die Konfrontation die Besetzung einer Polizeistation im Jerewaner Stadtbezirk Erebuni durch rund 30 Bewaffnete am 17. Juli. Die Männer, Veteranen aus dem Krieg um die Region Berg-Karabach in den frühen 1990ern, bezeichneten sich als „Sasna Tsrer“– zu Deutsch „Die Teufelskerle von Sasun“. Der Name spielt auf das gleichnamige armenische Nationalepos an, das vom Kampf der Armenier gegen die Araber handelt. Sasun ist eine Stadt, die im Südosten der heutigen Türkei liegt; in türkischer Sprache heißt sie Sason. Die Teufelskerle der Gegenwart moti- vierte indes nicht der Kampf gegen äußere Feinde, sondern gegen die eigene politische Elite. Sie verstehen sich als antikoloniale Aktivisten: gegen eine als armenierfeindlich und Moskau-hörig gebrandmarkte Regierung rund um Präsident Serzh Sargsjan, dessen Rücktritt sie forderten. Mit ihrer Aktion wollten sie zudem die Freilassung von Schirayr Sefiljan erreichen, der sich als radikaler Oppositioneller positioniert und im Juni wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet worden war.
Polizei stellte ein Ultimatum
Die Geiselnehmer setzten eine gefährliche Dynamik in Gang. Tausende von Sefiljans Unterstützern gingen nächstens auf die Straße, bei Zusammenstößen mit der Polizei wurden am Freitag Dutzende verletzt und mehr als 150 Menschen festgenommen. Die in der Wache verbarrikadierten Kidnapper ließen zwar zunächst ihre Geiseln frei, nahmen aber Mitte vergangener Woche vier neue, indem sie ein Notarztteam in ihre Gewalt brachten. Zwei Beamte starben durch Schüsse, mehrere Bewaffnete wurden verletzt. Da Verhandlungen er- gebnislos blieben, stellte die Polizei ein Ultimatum. Die Ausweglosigkeit der Lage ließ die Veteranen vermutlich einlenken; sie wollten, wie sie sagten, weiteres Blutvergießen vermeiden. In einem Clip ist zu sehen, wie die Männer mit erhobenen Händen den Polizisten entgegentrotten.
Die Regierung sieht sich mit „Terroristen“konfrontiert. Doch sie muss insgeheim froh sein, die Männer durch Gewaltanwendung nicht zu Märtyrern gemacht zu haben. Überraschend war der öffentliche Zuspruch für die bewaffneten Veteranen und ihr PolitGrüppchen. Sefiljan ist nicht sonderlich einflussreich, genießt jedoch hohes Ansehen, da er und seine Leute mit der Waffe für ihr Land gekämpft haben und anders als die Polit-Elite nicht im Verdacht stehen, korrupt zu sein.
Armenien galt lange Zeit als durch äußere Feinde im Inneren geeintes Land, regiert von einer postsowjetischen Elite, die in Russlands Windschatten mit be- grenztem Spielraum, aber sicher navigiert. Doch diese Ära scheint ihren Zenit überschritten zu haben. Kritik an Vetternwirtschaft und Korruption wird lauter. Im Sommer 2015 protestierten Bürger wochenlang gegen die hohen Strompreise. Zu Demonstrationen kam es heuer im April nach der militärischen Eskalation in Berg-Karabach, als Moskau wegen Waffenlieferungen an den Kriegsgegner Aserbaidschan plötzlich am Pranger stand. Für Arthur Atanesjan, Soziologe an der Jerewaner staatlichen Universität, sind diese Proteste „eine Konsequenz seit Langem ungelöster sozioökonomischer Probleme“. Die Regierung steht im Kreuzfeuer von Liberalen und nationalistischer Opposition gleichermaßen.
Soziologe Atanesjan sieht eine Besonderheit Armeniens darin, dass seine Bürger durch Diaspora und den hohen Bildungsgrad „in die globale Informationssphäre“integriert seien. Im Land gebe es „ein viel höheres Level an Redefreiheit als in anderen Ländern der Eurasischen Union“. All das trage dazu bei, dass die Antwort der Gesellschaft auf Korruption und autoritären Führungsstil „viel entschlossener“sei als anderswo.
In der Auseinandersetzung mit den bewaffneten „Teufelskerlen“hat die Regierung vorerst gesiegt. Eine Antwort auf die Begehren ihrer Bürger wird sie aber auf längere Sicht finden müssen.
Die Antwort der Gesellschaft auf Korruption ist entschlossener als anderswo in der Eurasischen Union. Soziologe A. Atanesjan