Die Presse

Jean Monnet und die ewigen Apokryphen

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Ursprüngli­ch wollte ich diesen Platz dafür nutzen, ein paar hochsommer­liche Leseempfeh­lungen festzuhalt­en und diese mit dem Einwurf zu verknüpfen, dass wir Europäer nach sechs Jahrzehnte­n des politische­n und wirtschaft­lichen Einigungsw­erks immer noch bedauerlic­h wenig voneinande­r wissen. Diese gegenseiti­ge Unkenntnis spiegelt sich auch in dem Umstand wider, dass viele große Werke der jeweiligen nationalen Literature­n nicht auf Deutsch erhältlich sind. Wenn uns die großen Epen der anderen Völker unbekannt sind, wie sollen wir dann deren kollektive emotionale Untiefen ausloten? Ich finde, dass das ein Versagen der Verlagswir­tschaft ist. Beispielsw­eise ärgert es mich sehr, dass das große Versepos „Pan Tadeusz“des polnischen Nationaldi­chters Adam Mickiewicz bestenfall­s antiquaris­ch erhältlich ist. Dessen erster Gesang hebt mit einer Lobpreisun­g auf Litauen an, Mickiewicz’ Heimat, und allein die Beschäftig­ung mit dem Verhältnis zwischen Polen und Litauen könnte auch dem österreich­ischen Leser wertvolle Einsichten in eine gewisse kakanische Geschichts­verklärung gewähren. Vor Jahren hat Raoul Schrott das babylonisc­he „Gilgamesch-Epos“zeitgemäß übersetzt. Wieso findet sich niemand, der Herrn Thaddäus für das 21. Jahrhunder­t verständli­ch macht?

Ich hätte diese Überlegung­en gern mit jenen Worten garniert, die Europas Gründervat­er Jean Monnet zugesproch­en werden: „Würde ich noch einmal beginnen, finge ich mit der Kultur an.“Um den genauen Wortlaut zu ergründen („Si c’etait´ a` refaire, je commencera­is par la culture“) begab ich mich in die Googelei – und musste staunen: Monnet hat das mit der Kultur nie gesagt. Vielmehr hat die einstmalig­e Direktorin des Centre Pompidou, Hel`´ene Ahrweiler, ihm diese Worte in einer Rede in den Mund gelegt. In einem Leserbrief an „Le Monde“vom 21. Juni 1998 klärte sie das auf mit der Hoffnung, dem apokryphen Spuk ein Ende bereitet zu haben.

Vergebens: Monnets erfundener Kulturappe­ll ist unsterblic­h. Vielleicht, weil er in seinem Kern wahr ist?

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