Jean Monnet und die ewigen Apokryphen
Ursprünglich wollte ich diesen Platz dafür nutzen, ein paar hochsommerliche Leseempfehlungen festzuhalten und diese mit dem Einwurf zu verknüpfen, dass wir Europäer nach sechs Jahrzehnten des politischen und wirtschaftlichen Einigungswerks immer noch bedauerlich wenig voneinander wissen. Diese gegenseitige Unkenntnis spiegelt sich auch in dem Umstand wider, dass viele große Werke der jeweiligen nationalen Literaturen nicht auf Deutsch erhältlich sind. Wenn uns die großen Epen der anderen Völker unbekannt sind, wie sollen wir dann deren kollektive emotionale Untiefen ausloten? Ich finde, dass das ein Versagen der Verlagswirtschaft ist. Beispielsweise ärgert es mich sehr, dass das große Versepos „Pan Tadeusz“des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz bestenfalls antiquarisch erhältlich ist. Dessen erster Gesang hebt mit einer Lobpreisung auf Litauen an, Mickiewicz’ Heimat, und allein die Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen Polen und Litauen könnte auch dem österreichischen Leser wertvolle Einsichten in eine gewisse kakanische Geschichtsverklärung gewähren. Vor Jahren hat Raoul Schrott das babylonische „Gilgamesch-Epos“zeitgemäß übersetzt. Wieso findet sich niemand, der Herrn Thaddäus für das 21. Jahrhundert verständlich macht?
Ich hätte diese Überlegungen gern mit jenen Worten garniert, die Europas Gründervater Jean Monnet zugesprochen werden: „Würde ich noch einmal beginnen, finge ich mit der Kultur an.“Um den genauen Wortlaut zu ergründen („Si c’etait´ a` refaire, je commencerais par la culture“) begab ich mich in die Googelei – und musste staunen: Monnet hat das mit der Kultur nie gesagt. Vielmehr hat die einstmalige Direktorin des Centre Pompidou, Hel`´ene Ahrweiler, ihm diese Worte in einer Rede in den Mund gelegt. In einem Leserbrief an „Le Monde“vom 21. Juni 1998 klärte sie das auf mit der Hoffnung, dem apokryphen Spuk ein Ende bereitet zu haben.
Vergebens: Monnets erfundener Kulturappell ist unsterblich. Vielleicht, weil er in seinem Kern wahr ist?