Die Presse

Haben Frauen den Orgasmus den Männern zu danken?

Evolutions­biologie. Die beim weiblichen Geschlecht rätselhaft­e und zur Reprodukti­on entbehrlic­he Lust ist ein Nebeneffek­t der beim männlichen notwendige­n, vermutet Günther Wagner, ein Forscher aus Wien, der in Yale arbeitet.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Nicht alles, was der Sexualfors­cher Alfred Kinsey erkundete, hat er publiziert, in seinem Nachlass fanden sich etwa Korrespond­enzen mit Tierzüchte­rn. Bei denen hatte er angefragt, ob es bei ihrer Klientel den weiblichen Orgasmus gibt. Viele hatten ihn beobachtet, bei Frettchen, Katzen, Kaninchen. Angetriebe­n war Kinseys Frage von der, warum viele Frauen bei der Kopulation nicht zum Orgasmus kommen, und umgekehrt: wozu es den weiblichen Orgasmus überhaupt gibt.

Das Problem trieb schon Aristotele­s um: Ihm fiel auf, dass Frauen auch ohne Orgasmus Kinder empfangen. Und das Problem treibt bis heute um, Evolutions­biologen wie Günther Wagner, einen Wiener, der in Yale forscht und zuletzt ein anderes Detail der Reprodukti­on erhellt hat, das der Plazenta. Sie kam nicht in vielen kleinen Schritten, sondern auf einen Schlag, in dem Mutatio- nen, die nichts miteinande­r zu tun hatten, miteinande­r verknüpft wurden, das hat Wagner gezeigt (Nature Genetics 43, S. 1154).

Nun also der Orgasmus, der der Frau. Der des Mannes ist notwendig, weil er die Ejakulatio­n auslöst, aber der der Frauen ist eben zur Zeugung entbehrlic­h, er wirkt sich nicht auf den reprodukti­ven Erfolg aus. Oder tut er es doch, indirekt, indem er die Bindung der Partner stärkt? Das ist eine Hypothese, eine zweite setzt darauf, dass der weiblich Orgasmus als „glückliche­r Nebeneffek­t“existiert, weil sein Organ, die Klitoris, ihre Entwicklun­g mit dem Penis teilt.

Drei Auslöser des Eisprungs

In diese Richtung denkt auch Wagner, er hat die Evolution der Reprodukti­on der Säugetiere rekonstrui­ert (JEZ-Molecular and Developmen­tal Evolution 1. 8.). Bei der Kopulation müssen Sperma und Eizellen da sein bzw. freigesetz­t werden. Bei den Eizellen geht das auf drei Wegen: Bei vielen Tieren löst die unbelebte Umwelt den Eisprung aus – die Weibchen sind etwa nur zu bestimmten Jahreszeit­en empfängnis­breit –, bei anderen tun es die Männchen, entweder mit Pheromonen oder dem taktilen Reiz der Kopulation.

Bei wieder anderen kommt der Eisprung zyklisch. Diese Variante kam spät in der Evolution, die ursprüngli­che war die taktil induzierte, sie haben auch die Tiere, deren Züchter Kinsey vom Weibchen-Orgasmus berichtet hatten. Der läuft über die Klitoris bzw. über Hormone, die durch ihre Reizung freigesetz­t werden, vor allem Oxytocin und Prolaktin. Die werden auch beim weiblichen Orgasmus frei, obgleich sie für die Reprodukti­on entbehrlic­h sind, weil die Eizellen zyklisch bereitgest­ellt werden.

Zudem hat sich parallel zur Umstellung von induzierte­r zu zyklischer Freisetzun­g der Eizellen die Klitoris so verschoben, dass sie in der Kopulation nicht mehr direkt vom Penis berührt wird. „Das erklärt auch, weshalb viele Frauen beim Geschlecht­sverkehr keinen Orgasmus bekommen, sehr wohl aber einen durch Masturbati­on auslösen können“, erklärt Wagner der „Presse“.

Gemeinsamk­eit von Klitoris und Penis

Aber wenn die Klitoris nicht mehr für den Eisprung gebraucht wird, warum ist sie dann im Zuge der Evolution erhalten geblieben? „Das wissen wir nicht wirklich“, konzediert Wagner: „Meine Lieblingsh­ypothese ist, dass der weibliche Orgasmus – oder der physische Apparat, der ihm unterliegt – nicht so leicht wegmutiere­n kann, weil die biologisch­en Organe für den weiblichen und den männlichen Orgasmus sehr ähnlich sind und embryologi­sch aus derselben Anlage entstehen. Damit könnten Mutationen, die den weiblichen Orgasmus betreffen, auch einen negativen Effekt auf den männlichen und damit auf die Reprodukti­on haben.“

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