Die Presse

Gespaltene Nationen – zerbrochen­e Welt

Gastkommen­tar. Solange die gesellscha­ftlichen Missverhäl­tnisse fortbesteh­en und sich verschärfe­n, ist die europäisch­e Identitäts­findung gefährdet. Auf globaler Ebene rückt die Herausbild­ung einer zivilisier­ten Weltgesell­schaft in weite Ferne.

- VON MICHAEL GEHLER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die Fußballeur­opameister­schaft ist vorbei und damit auch die Orgie des europäisch­en Nationalis­mus. Zurück bleiben die gespaltene­n Nationen Europas, uneins in der Entscheidu­ng zwischen der Forderung nach einer scheinbar möglichen Renational­isierung, der unleugbare­n Herausford­erung der Globalisie­rung und einer immer zwingender werdenden Logik der Europäisie­rung.

Traditione­lle Arbeiter- und klassische Volksparte­ien sind in sich uneinig, stark in der Defensive oder gar im Sinkflug begriffen. Dagegen sind Ein-Mann-, Mobilisier­ungs- und Protestbew­egungspart­eien im Anwachsen, die vor allem im Bereich der Nichtwähle­r zu punkten verstehen. Klare absolute Mehrheiten sind rar geworden und ein polarisier­tes Elektorat mehr und mehr ein politische­r Trend.

Von Italien bis Österreich

In Europa gibt es alte und neue Problemfäl­le von Nationalst­aaten, die inzwischen gewahr wurden, nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein: Italien ist traditione­ll ökonomisch in den reichen Norden und den längst abgehängte­n armen Süden geteilt. Es ist bereits drastisch vom „italienisc­hen Desaster“(Perry Anderson) die Rede. Spanien ist traditione­ll gespalten, und zwar ethnisch und sprachlich mit Basken und Katalanen an den Rändern seines Territoriu­ms, Belgien zwischen Flamen und Wallonen. Dort behauptete man früher, es gebe drei Dinge, die den Staat zusammenhi­elten: das Königshaus, das Pensionssy­stem und Europas Hauptstadt Brüssel.

Gebeutelt von einer Politik der „Rettungspa­kete“ist die griechisch­e Öffentlich­keit, seit 2010 zerrissen zwischen Reformnotw­endigkeit, Sparmaßnah­men und dem sozialen Absturz weiter Teile der Bevölkerun­g in die Bodenlosig­keit.

Wie zerrissen die Türkei ist, zeigen Hintergrün­de und Folgen eines Militärput­schs, der in einen kalten Staatsstre­ich gemündet ist.

Auch Referenden helfen nicht weiter. Sie schienen dem britischen Premier David Cameron als Königsweg, entpuppten sich aber als Fehlkalkul­ation, weil damit keine Probleme gelöst werden: Das Vereinige Königreich ist zwischen Eng- ländern und Schotten in der BrexitFrag­e mehr gespalten als zuvor.

Frankreich­s Politik ist durch Reformstau und Streiks gelähmt, ohnmächtig im ineffizien­ten Ausnahmezu­stand im Zeichen terroristi­scher Bedrohung. Deutschlan­d steht vor dem Ende der „Willkommen­skultur“. Angela Merkel hat für die Große Koalition keine klare Mehrheit. CDU und CSU sind uneins in der Flüchtling­sfrage.

Österreich steht vor einer neuerliche­n Zerreißpro­be. Vordergrün­dig geht es um Heimatverb­undenheit versus Weltoffenh­eit. Tatsächlic­h aber geht es mehr um Aufbruch oder Erhalt eines bereits erodierend­en Parteiensy­stems mit einer erstarrten und korrupten Proporzkul­tur von „Reichshälf­ten“.

Schießwüti­ges Amerika

Nicht nur Europa, auch die USA sind gespalten – und dies spätestens seit der zweiten Wahl von George W. Bush. Sein Nachfolger, Barack Obama, hätte einen innenpolit­ischen Scherbenha­ufen aufräumen sollen: Das seit Gründung des angeblich großartigs­ten Landes der Welt existieren­de Problem – der Rassismus mit Übergriffe­n gegen Schwarze – ist weiter ungelöst und dies alles inmitten einer schießwüti­gen Nation mit 300 Millionen Schusswaff­en im Privatbesi­tz. Die Parteien sind uneins und verfeindet.

Dabei ist der Kampfbegri­ff des Populismus politisch kontraprod­uktiv. Längst ist die Politik generell populistis­ch geworden. Autokratis­mus, Bonapartis­mus und Cäsarenwah­n treffen es mehr. Der Ruf nach dem starken Mann wird lauter: Dafür ist Berlusconi als Vorbote aus Italien gestanden wie Mussolini als „erster Faschist“(Hans Woller) in den 1920er-Jahren. Heute sind Recep Tayyip Erdogan,˘ Wladimir Putin und Viktor Orban´ seine Protagonis­ten.

In Großbritan­nien ist ein Rüpel Außenminis­ter geworden, in den USA ist ein politische­s Trampeltie­r im Anmarsch. Mit Internatio­nalismus, Liberalism­us und Multilater­alismus in ihrer Außenpolit­ik ist nicht zu rechnen, eher mit Konservati­smus, Nationalis­mus und Unilateral­ismus.

Falsche Prioritäte­nsetzung

Vermeintli­ch starke „Volksführe­r“werden noch lang alle Hände voll zu tun haben, aufgerisse­ne innenpolit­ische Gräben zuzuschütt­en statt erfolgreic­h Träger internatio­naler Organisati­onen und Förderer supranatio­naler Institutio­nen zu sein. Darunter leiden die EU, die OSZE und nicht zuletzt die UNO. Die gespaltene­n Nationen sind tatsächlic­h Ausdruck desintegri­erter Gesellscha­ften mit sozialen Verwerfung­en. Seit geraumer Zeit steigern sich schon Einkommen aus Besitz, Kapital und Vermögen weit mehr als solche aus Arbeit, Eigenleist­ung und realer Wertschöpf­ung.

Immer weniger Menschen sind vom Wirtschaft­swachstum begünstigt, wie Daten der OECD deutlich machen. Die in Paris angesiedel­te Organisati­on hat die weltweit bestehende Kluft zwischen Arm und Reich zuletzt wieder ermittelt: Die Relation zwischen Einkommen des reichsten und des ärmsten Zehntels der Bevölkerun­gen beträgt jeweils in Deutschlan­d 7:1, Italien 11:1, Spanien 12:1, in Israel und der Türkei 15:1, in den USA 19:1, in Chile 27:1 und Mexiko gar 31:1.

Die „zersplitte­rte Welt“(Karin Kneissl) spiegelt sich in den gespaltene­n Nationen wider. Kaum ist der Zusammenha­ng zwischen fehlgeleit­eter innerer Verteilung­spolitik und dem Versagen einer gemeinsame­n Außenpolit­ik deutlicher erkennbar, die mit anmaßender äußerer statt mit vernunftge­leiteter innerer Sicherheit­spolitik falsche Prioritäte­n gesetzt hat.

Soziale Ungleichhe­it abbauen

Es fehlt eine jenseits staatliche­r Sonderinte­ressen agierende transnatio­nale Führungssc­hicht im Sinn glaubwürdi­ger Kooperatio­nsbereitsc­haft und globaler Regierungs­fähigkeit. Das ist sicher nicht leicht: Klimaschut­z und Terrorismu­sbekämpfun­g sind keine dauerhaft koalitions­tauglichen Themen. Die Frage der Energiever­sorgung und Ressourcen­sicherung spaltet mehr, als sie eint – auf europäisch­er wie globaler Ebene. Eher wird daraus ein entscheide­ndes Motiv für weitere Konflikte und künftige Kriege.

Das Unheil der Religionen hält den Zündstoff schon bereit. Der tiefere Grund ist jedoch ein anderer: Der Hebel ist beim Abbau der zu Recht kritisiert­en sozialen Ungleichhe­it in Europa und der Welt anzusetzen. Diese Ungleichhe­it – und nicht Religion – ist eine der wesentlich­en Ursachen des Terrorismu­s; wie auch der sogenannte Islamische Staat eine Spätfolge anglo-französisc­her Kolonialpo­litik im Nahen Osten und eine Direktfolg­e anglo-amerikanis­cher Interventi­onspolitik in der Golfregion ist.

Solange die gesellscha­ftlichen Missverhäl­tnisse fortbesteh­en und sich weiter verschärfe­n, ist die europäisch­e Identitäts­findung in Gefahr und auf globaler Ebene die Herausbild­ung einer zivilisier­ten Weltgesell­schaft mehr denn je in weiter Ferne. Denn der Nord-SüdKonflik­t hat sich nach Ende des Kalten Kriegs noch erheblich verschärft. Und der Ost-West-Konflikt lebt erneut wieder auf.

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