Die Presse

So kommen Türken nach Österreich

Die Stimmung in der Türkei mag derzeit Anti-Brüssel sein. Das heißt aber nicht, dass die Türken, besonders die säkularen, der EU abgeschwor­en haben.

- E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

Es wäre für die türkische Regierung wirklich eine Errungensc­haft der Superlativ­e: die Visafreihe­it für den Schengenra­um. Türkische Staatsbürg­er müssen für ein paar Tage Urlaub oder Verwandten­besuch noch immer durch eine äußerst mühsame Prozedur; so hat mit der Aussicht auf die Visaerleic­hterungen eine Welle der Euphorie das Land erfasst. Denn es geht um mehr als ein paar Tage Urlaub. Die Visafreihe­it würde den türkischen Pass aufwerten, sie der europäisch­en gleichstel­len: Diese Symbolik ist für ein Land, mit dem Brüssel jahrzehnte­lang eine Hinhaltepo­litik betrieben hat, kaum zu bemessen.

Die Regierung in Ankara ist nun dabei, diese Aussichten in den Wind zu schießen: Ihre Forderung nach einem konkreten Datum für die Visafreihe­it wurde insbesonde­re von Berlin scharf zurückgewi­esen, denn die Forderung kam mit der Drohung, das Brüssel/Ankara-Abkommen zur Bewältigun­g der Flüchtling­skrise aufzukündi­gen. Normalerwe­ise sorgt die leiseste Abkehr von der EU für eine massiv schlechte Stimmung zwischen Istanbul und Diyarbakir, denn der Großteil der Bevölkerun­g – selbst die konservati­vsten Kräfte – ist prowestlic­h eingestell­t. Aber diesmal ist die Lage aus mehreren Gründen anders.

Erstens: Der im März abgeschlos­sene EU/Türkei-Deal wurde nirgends so scharf kritisiert wie in der Türkei selbst. Das Abkommen kam zu einer Zeit zustande, als im Südosten des Landes der bewaffnete Kampf mit den Kurden wüst eskalierte, als regimekrit­ische Journalist­en reihenweis­e festgenomm­en wurden, als Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ selbst Teenager vor Gericht zerrte, die ihn auf Twitter kritisiert­en. Säkulare und gesellscha­ftsliberal eingestell­te Kommentato­ren – deren es nicht so wenige gibt, wie es aus europäisch­er Perspektiv­e oft den Anschein hat – haben den Deal als Hohn gewertet. Die EU, so lautet der Tenor seit März, hat aus innenpolit­ischen Gründen ihre Ideale aufgegeben und damit die reformwill­igen Kräfte in der Türkei nachhaltig geschwächt.

Zweitens: Seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch Mitte Juli verbreitet Ankara die Darstellun­g, dass man vom sogenannte­n Westen im Stich gelassen worden sei. Dabei ist der Putschvers­uch internatio­nal verurteilt worden, und man weiß in Eu- ropa, dass diese Nacht ein Schock für die Menschen war. Aber mit Kritik am harschen Vorgehen gegen die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, der hinter dem Coup stecken soll, spart der Westen auch nicht. Zu Recht. Ankara fühlt sich aber unverstand­en, denn das konspirati­ve Gülen-Netzwerk ist derart weitläufig, dass man nur mit Massenentl­assungen und -verhaftung­en dagegen vorgehen könne. Genau dieses Empfinden gelangt nun über regierungs­nahe Medien an AKP-Anhänger und Nationalis­ten.

Diese „Alle sind gegen uns“-Atmosphäre wird mit jedem Tag dichter. Zum einen, weil in der europäisch­en Debatte sehr oft die weitverbre­itete Feindselig­keit gegenüber Türken mitschwing­t; und zum anderen, wenn etwa bei der Demonstrat­ion türkeistäm­miger Bürger in Köln Erdogan˘ nicht zugeschalt­et werden darf und das als „demokratis­che Schande“(Justizmini­ster Bekir Bozdag)˘ bewertet wird. Die AKP will offenbar nicht verstehen, dass die eigentlich­e demokratis­che Schande das Beschneide­n von Meinungs- und Demonstrat­ionsfreihe­it ist. In Deutschlan­d sind diese Rechte nicht in Gefahr, in der Türkei schon.

Drittens: Seit Monaten lautet das Credo der türkischen Regierung: „Die EU ist nicht alles.“Jüngst ist die Aussöhnung mit Moskau erfolgt, und damit rückt auch die Mitwirkung bei der Shanghaier Organisati­on für Zusammenar­beit in greifbare Nähe. Dort wirken China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisista­n und Tadschikis­tan, alles Länder, die vermutlich nicht aufschreie­n werden, sollte Ankara die Todesstraf­e wieder einführen. Mit dem Blick in Richtung Osten impliziert Ankara auch: Selbst in schweren Zeiten wie diesen sind wir nicht orientieru­ngslos.

Die Stimmung in der Türkei mag derzeit Anti-Brüssel sein. Das heißt aber nicht, dass die Türken, insbesonde­re die säkularen, der EU abgeschwor­en haben. Sie wissen: Viele grundlegen­d demokratis­chen Veränderun­gen hat erst der EUBeitritt­sprozess möglich gemacht.

 ??  ?? VON DUYGU ÖZKAN
VON DUYGU ÖZKAN

Newspapers in German

Newspapers from Austria