Die Presse

Die Kinderatte­ntäter der Terrormili­z IS

Hintergrun­d. Der sogenannte Islamische Staat bildet gezielt Minderjähr­ige für Selbstmord­anschläge aus. Einer von ihnen schlug nun offenbar in der Türkei zu, ein anderer wurde in letzter Minute in Kirkuk gestoppt.

- Von unserem Mitarbeite­r MARTIN GEHLEN

Die irakische Stadt Kirkuk erlebte am Sonntagabe­nd dramatisch­e Momente. Der schlaksige Halbwüchsi­ge im Trikot des Barcelona-Stars Lionel Messi fiel kurdischen Polizisten auf, weil er bei der Kontrolle plötzlich anfing zu schluchzen. Unter seinem T-Shirt steckte ein weißer Sprengstof­fgürtel. Zwei Uniformier­te hielten den Buben fest und holten Peschmerga-Spezialist­en zu Hilfe. Diese schnitten mit einer Zange Kabel und Halterunge­n durch. Mit verstörtem Blick starrte der Teenager in die Nacht, sein Barcelona-Shirt mit der gelben Nummer 10 lag zerrissen auf dem Asphalt. Dann schoben ihn die Beamten in einen Polizeiwag­en, in dem der Bub mit bloßem Oberkörper erneut anfing zu weinen, und fuhren davon.

Bisher hüllen sich die kurdischen Behörden in Schweigen über die Hintergrün­de des verhindert­en Attentats. Anwohner vermuten, dass der Bursche die Bombe während des Abendgebet­s in einer nahe gelegenen schiitisch­en Moschee zünden sollte. Und vieles deutet darauf hin, dass auch in Kirkuk – wie tags zuvor bei der Explosion inmitten einer Hochzeitsg­esellschaf­t im türkischen Gaziantep – der Islamische Staat dahinterst­eckt. In Gaziantep hatte sich am Samstag ein etwa Zwölf- bis 14-Jähriger unter die Gäste gemischt, die auf offener Straße feierten. 54 Menschen starben, 69 wurden verletzt, 17 schweben noch in Lebensgefa­hr. Das Brautpaar überlebte das Blutbad leicht verletzt. In Kirkuk wurde der rechtzeiti­g entschärft­e Gürtel später an einem sicheren Ort gezündet. Für einige Sekunden erhellte ein greller Blitz die nächtliche­n Straßen und demonstrie­rte den Bewohnern, wie knapp ihre Stadt einem ähnlichen Massaker entkommen war.

„Der Islamische Staat mobilisier­t Kinder und Jugendlich­e in einem wachsenden und beispiello­sen Ausmaß“, urteilt die bisher einzige Studie zu dem Thema, die von der Georgia State University in Atlanta erarbeitet wurde. Dazu haben drei Forscher insgesamt 89 Twitterfot­os und -videos ausgewerte­t, auf denen von Jänner 2015 bis Jänner 2016 Kinder und Jugendlich­e im Alter von acht bis 18 Jahren als sogenannte IS-Märtyrer gefeiert werden. Etwa 40 Prozent ihrer Gewalttate­n sind Selbstmord­attentate mit dynamitgef­üllten Autos. 33 Prozent der Halbwüchsi­gen starben als Kämpfer auf dem Schlachtfe­ld, 18 Prozent nahmen an sogenannte­n Inghimasis-Operatione­n teil, bei denen Gruppen von Kämpfern mit leichten Waffen hinter die Linien ihrer Gegner vordringen und sich dann gemeinsam in die Luft sprengen. Die weit

überwiegen­de Zahl der dokumentie­rten Kinderatte­ntate richtete sich gegen Polizisten, Soldaten und Milizionär­e. Lediglich in drei Prozent der Fälle sprengten sich Jugendlich­e inmitten von Zivilisten in die Luft. „Solche Aktionen sind eine sehr effektive Form von psychologi­scher Kriegsführ­ung“, urteilen die Wissenscha­ftler, die mit zunehmende­n ISEinsätze­n von Minderjähr­igen rechnen.

Gehirnwäsc­he bei jesidische­n Kindern

Zehntausen­de Heranwachs­ende werden seit Mitte 2014 in den Schulen des „Islamische­n Kalifats“indoktrini­ert. Die Schulbüche­r, die Hass und Verachtung für Andersgläu­bige lehren, stammen fast alle aus Saudiarabi­en. Obendrein entwickelt­e der IS eine spezielle Lern-App für „die Jungen des Kalifats“, das den Kleinen das arabische Alphabet in Jihadisten­manier beibringen soll. Jeder Buchstabe ist als Merkhilfe mit dem Bild von Panzern, Gewehren, Granaten, Minen oder Schwertern verknüpft. Auch setzt keine der Terrororga­nisationen des Nahen Ostens Kin- der und Jugendlich­e so bewusst zu Propaganda­zwecken ein wie der Islamische Staat. So zeigt inzwischen eine Fülle von Videos maskierte Kinder oder Teenager, die vor ihnen kniende Soldaten oder angeblich enttarnte Spione per Kopfschuss hinrichten.

Um den Schrecken noch zu steigern, wurden in einem neuen IS-Propaganda­streifen 1400 jesidische Kinder vorgeführt, die angeblich zu Selbstmord­attentäter­n ausgebilde­t werden sollen, das Jüngste erst fünf Jahre alt. Denn immer noch befinden sich rund 3800 Jesiden in der Hand der Gotteskrie­ger, 2600 konnten bisher freigekauf­t werden. Täglich kommen Menschen aus der IS-Sklaverei zurück, berichtet Baba Cawis, der religiöse Wächter des jesidische­n Heiligtums im nordirakis­chen Lalisch. Der gefangene Nachwuchs seiner religiösen Minderheit ist jetzt bereits zwei Jahre der IS-Gehirnwäsc­he ausgesetzt. „Die Leute hier haben inzwischen Angst vor den eigenen Kindern, dass sie genauso gewalttäti­g wie der IS werden“, sagt er. „Denn Kinder – die sind wie ein weißes Buch.“

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In der nordirakis­chen Stadt Kirkuk fiel Sicherheit­sbea
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[ Reuters ] onntag ein Bursche auf, der unter seinem Messi-Trikot einen Sprengstof­fgürtel trug.

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