Angst vor Menschen als Treiber der Evolution der anderen Tiere
„Macht euch die Erde untertan“lautete der Auftrag, den die Menschen nur allzu gründlich erfüllten.
Selbst im Artenschutz hält die Psychologie zunehmend Einzug. So halten im Yellowston Park (USA) zwar die Wölfe mittelgroße Raubtiere wie etwa Waschbären, Füchse und Kojoten kurz und fördern damit die Vielfalt an Vögeln und anderen Kleintieren. Vor allem aber verängstigen sie durch ihre Gegenwart mögliche Beutetiere, wie Hirsche und Bisons, die daraufhin die Art der Beweidung verändern, was in vielen Gebieten zu einem stärkeren und reichhaltigeren Pflanzenwachstum führt.
Will man also die Vielfalt der Lebewelt erhalten – so die scheinbare Moral aus dieser Geschichte – sollte man weltweit Schutzgebiete einrichten und dort auch den großen Beutegreifern wie Löwen, Tigern, Bären, Wölfen etc. Platz bieten. Nach dem Muster vieler bereits bestehender Parks könnte man damit sogar den lokalen Tourismus zum Blühen bringen. Aber so ökotrivial funktionieren Natur- und Artenschutz nicht. Denn Menschen üben auch dann einen starken Einfluss auf andere Tiere aus, wenn sie sich dezent zurückhalten.
So zeigte eine Studie eines Konsortiums um Michael Clinchya aus Kanada, eben erschienen in der Zeitschrift „Behavioral Ecology“, dass sich die Wildtiere, einschließlich der mittelgroßen Raubtiere, viel mehr vor Menschen als vor den großen Raubtieren fürchten. Auch die großen Raubtiere fürchten sich vor nichts mehr als vor uns. Dies wirkt sich natürlich auch in Schutzgebieten stark auf die Nutzung von Habitat und Nahrung durch die Tiere aus. Auch wenn in solchen Gebieten Menschen versuchen, die Tiere möglichst wenig zu stören, oder annehmen, diese hätten sich an ihre Anwesenheit gewöhnt, üben sie dennoch zum Teil einen starken Einfluss aus; selbst die für den Artenschutz an sich segensreichen Fotosafaris begünstigen jene Arten, die mit dem Rummel besser zurechtkommen als die anderen. A uffälligerweise meiden Tiere in der Antarktis oder auf kaum je von Menschen besuchten Pazifikinseln Menschen oft erstaunlich wenig. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass in der jahrtausendewährenden, bis heute andauernden Verfolgung der Grund für die Scheu der meisten Wildtiere vor Menschen zu suchen ist. Als weltweites Superraubtier beeinflusste unseresgleichen damit direkt und in erheblichem Ausmaß die Evolution, indem wir einen starken Selektionsdruck in Richtung Scheuheit erzeugten. Tiere wurden ausgerottet, wenn sie zu langsam auf die Verfolgung reagierten. Dies widerfuhr mit der Ausbreitung des Menschen etwa zwei Dritteln der Fauna auf den pazifischen Inseln; so verschwanden Mammute und Mastodonten von dieser Erde, die unsere Vorfahren, neuesten Erkenntnissen zufolge, in trauter Kooperation mit Wölfen ausrotteten; Nashörner und Elefanten werden wohl bald folgen.
„Macht euch die Erde untertan“, lautete der Auftrag, den die Menschen nur allzu gründlich erfüllten. Auch, weil sie selbst von der Evolution mit viel Egoismus und Nepotismus, aber mit nur sehr wenig Augenmerk für das große Ganze ausgestattet wurden. Wir gebärden uns schon lang als Herrscher der Erde, anstatt als deren temporäre Gäste, wie es ökologisch nachhaltig wäre. So teilen wir dann auch das tragische Schicksal der einsamen Herrschenden: Wir werden von den Mitgeschöpfen gefürchtet und gemieden. Kann man die Domestikation von Wildtieren, etwa des Hundes aus dem Wolf, auch als Versuch sehen, sich Tiere zu schaffen, vor denen wir uns nicht fürchten, bloß weil wir Menschen sind?
Im derzeitigen Kontext würde sich ein weicher Brexit nicht allzu sehr von dem Kompromiss unterscheiden, den die Regierung des früheren Premierministers David Cameron mit der EU im Februar verhandelte – also jenem Abkommen, dem 51,9 Prozent der britischen Wähler im Juni eine Abfuhr erteilten. Als Teil dieses Kompromisses erkannte die EU die Möglichkeit mehrerer Währungen innerhalb der Union an und akzeptierte Großbritanniens Recht, zeitweilige Beschränkungen von migrationsfördernden Sozialleistungen einzuführen. Diese Notbremse im Bereich Migration würde im Fall eines weichen Brexits in die Verlängerung gehen und im Grunde zu einem Dauerzustand werden.
Klare Visionen für Europa
Ein wirksames Abkommen über einen weichen Brexit müsste allerdings über diese Fragen hinausgehen und auch Großbritanniens Beziehung zu Europa definieren. Dazu wäre nicht nur Gewissenserforschung in Großbritannien erforderlich, sondern auch die Ausarbeitung einer klaren Vision dessen, was Europa eigentlich ist.
Die Verbindungen des Vereinigten Königreichs mit Europa gestalteten sich lange Zeit als halb losgelöst. „Wir stehen Europa bei, sind aber kein Teil davon“, teilte Winston Churchill dem Unterhaus des britischen Parlaments im Jahr 1953 im Rahmen einer Debatte über eine geplante europäische Verteidigungsgemeinschaft mit. „Wir haben Verbindungen, gehören aber nicht dazu. Wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht verschmolzen.“
Diese Worte scheinen Ausdruck jener – von Cameron und Ex-Finanzminister Osborne an den Tag gelegten – Haltung zu sein, die teilweise den Weg in Richtung Brexit geebnet hat. Als Reaktion auf die Eurokrise argumentierten sie, Europa brauche mehr fiskalische Integration, allerdings ohne Großbritannien. Es werde keine finanzielle Beteiligung der Briten an Euro-Rettungsmaßnahmen geben. Die Solidarität (so weit sie mit Kosten verbunden ist) endet am Ärmelkanal.
Aber ebenso wie de Gaulles Erklärung und Mays Slogan enthält auch Churchills Feststellung sprachliche Elemente politischer Mehrdeutigkeit. Während des Wahlkampfs zum Brexit-Referendum beriefen sich sowohl Befürworter als auch Gegner eines Brexit auf Churchills Äußerung. Die vernünftigste Deutung kam, etwas überraschend, von Boris Johnson, Chef der Austrittsbefürworter und jetzt Großbritanniens Außenminister: In seinen Augen war Churchill im Hinblick auf Europa dafür, sich den Pelz waschen zu lassen – und er war auch dafür, sich nicht nass machen zu lassen.
In jedem Fall bleibt das Problem einer Definition Europas. Hängt das Überleben der EU von einer tieferen und engeren Integration einer Kerngruppe von Ländern ab? Für diejenigen, die diese Ansicht teilen, insbesondere in Frankreich und Deutschland, bietet der Brexit eine Chance, die Regeln – und das Ziel – des Unterfangens zu straffen und klarzustellen.
Andere wiederum ziehen es vor, einen gewissen Grad an Mehrdeutigkeit zu erhalten, da dies den Konsens zu komplexen Fragen erleichtert und dabei hilft, Regierungschefs im Amt zu halten. In diese Kategorie fällt Kanzlerin Angela Merkel, was sie zu einer Art kontinentalem Pendant zu May macht. Diese Strategie, sich der Unschärfe zu bedienen, um Raum für unterschiedliche politische Systeme und Denkweisen zu schaffen – und zuweilen auch, um möglichst viele dazu zu bringen, die von wenigen gefällten Entscheidungen mitzutragen – wird die Bemühungen um eine Definition Europas weiterhin behindern und damit die Verhandlungen um einen weichen Brexit untergraben.
Die Briten fühlen sich mit Mehrdeutigkeit aber durchaus wohl. Das wichtigste Werk britischer Literaturkritik aus dem 20. Jh. ist William Empsons „Seven Types of Ambiguity“. Laut Empson impliziert Mehrdeutigkeit die Möglichkeit, alternative Sichtweisen „ohne allumfassendes Missverständnis“einzunehmen.
Von der Mehrdeutigkeit, die sich aus einer komplizierten Perspektive des Verfassers ergibt, bis hin zu jener, die auf einen fundamentalen Konflikt im Kopf des Autors hinweist, scheint Empsons Aufzählung literarischer Ambiguitäten in der Politik – insbesondere der britischen Politik – durchaus ihren Platz zu haben. Die Frage lautet, ob Europas 27 Quellen der Mehrdeutigkeit noch eine 28. aushalten. Copyright: Project Syndicate, Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.