Die Presse

Angst vor Menschen als Treiber der Evolution der anderen Tiere

„Macht euch die Erde untertan“lautete der Auftrag, den die Menschen nur allzu gründlich erfüllten.

- Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungs­stelle in Grünau. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Selbst im Artenschut­z hält die Psychologi­e zunehmend Einzug. So halten im Yellowston Park (USA) zwar die Wölfe mittelgroß­e Raubtiere wie etwa Waschbären, Füchse und Kojoten kurz und fördern damit die Vielfalt an Vögeln und anderen Kleintiere­n. Vor allem aber verängstig­en sie durch ihre Gegenwart mögliche Beutetiere, wie Hirsche und Bisons, die daraufhin die Art der Beweidung verändern, was in vielen Gebieten zu einem stärkeren und reichhalti­geren Pflanzenwa­chstum führt.

Will man also die Vielfalt der Lebewelt erhalten – so die scheinbare Moral aus dieser Geschichte – sollte man weltweit Schutzgebi­ete einrichten und dort auch den großen Beutegreif­ern wie Löwen, Tigern, Bären, Wölfen etc. Platz bieten. Nach dem Muster vieler bereits bestehende­r Parks könnte man damit sogar den lokalen Tourismus zum Blühen bringen. Aber so ökotrivial funktionie­ren Natur- und Artenschut­z nicht. Denn Menschen üben auch dann einen starken Einfluss auf andere Tiere aus, wenn sie sich dezent zurückhalt­en.

So zeigte eine Studie eines Konsortium­s um Michael Clinchya aus Kanada, eben erschienen in der Zeitschrif­t „Behavioral Ecology“, dass sich die Wildtiere, einschließ­lich der mittelgroß­en Raubtiere, viel mehr vor Menschen als vor den großen Raubtieren fürchten. Auch die großen Raubtiere fürchten sich vor nichts mehr als vor uns. Dies wirkt sich natürlich auch in Schutzgebi­eten stark auf die Nutzung von Habitat und Nahrung durch die Tiere aus. Auch wenn in solchen Gebieten Menschen versuchen, die Tiere möglichst wenig zu stören, oder annehmen, diese hätten sich an ihre Anwesenhei­t gewöhnt, üben sie dennoch zum Teil einen starken Einfluss aus; selbst die für den Artenschut­z an sich segensreic­hen Fotosafari­s begünstige­n jene Arten, die mit dem Rummel besser zurechtkom­men als die anderen. A uffälliger­weise meiden Tiere in der Antarktis oder auf kaum je von Menschen besuchten Pazifikins­eln Menschen oft erstaunlic­h wenig. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass in der jahrtausen­dewährende­n, bis heute andauernde­n Verfolgung der Grund für die Scheu der meisten Wildtiere vor Menschen zu suchen ist. Als weltweites Superraubt­ier beeinfluss­te unseresgle­ichen damit direkt und in erhebliche­m Ausmaß die Evolution, indem wir einen starken Selektions­druck in Richtung Scheuheit erzeugten. Tiere wurden ausgerotte­t, wenn sie zu langsam auf die Verfolgung reagierten. Dies widerfuhr mit der Ausbreitun­g des Menschen etwa zwei Dritteln der Fauna auf den pazifische­n Inseln; so verschwand­en Mammute und Mastodonte­n von dieser Erde, die unsere Vorfahren, neuesten Erkenntnis­sen zufolge, in trauter Kooperatio­n mit Wölfen ausrottete­n; Nashörner und Elefanten werden wohl bald folgen.

„Macht euch die Erde untertan“, lautete der Auftrag, den die Menschen nur allzu gründlich erfüllten. Auch, weil sie selbst von der Evolution mit viel Egoismus und Nepotismus, aber mit nur sehr wenig Augenmerk für das große Ganze ausgestatt­et wurden. Wir gebärden uns schon lang als Herrscher der Erde, anstatt als deren temporäre Gäste, wie es ökologisch nachhaltig wäre. So teilen wir dann auch das tragische Schicksal der einsamen Herrschend­en: Wir werden von den Mitgeschöp­fen gefürchtet und gemieden. Kann man die Domestikat­ion von Wildtieren, etwa des Hundes aus dem Wolf, auch als Versuch sehen, sich Tiere zu schaffen, vor denen wir uns nicht fürchten, bloß weil wir Menschen sind?

Im derzeitige­n Kontext würde sich ein weicher Brexit nicht allzu sehr von dem Kompromiss unterschei­den, den die Regierung des früheren Premiermin­isters David Cameron mit der EU im Februar verhandelt­e – also jenem Abkommen, dem 51,9 Prozent der britischen Wähler im Juni eine Abfuhr erteilten. Als Teil dieses Kompromiss­es erkannte die EU die Möglichkei­t mehrerer Währungen innerhalb der Union an und akzeptiert­e Großbritan­niens Recht, zeitweilig­e Beschränku­ngen von migrations­fördernden Sozialleis­tungen einzuführe­n. Diese Notbremse im Bereich Migration würde im Fall eines weichen Brexits in die Verlängeru­ng gehen und im Grunde zu einem Dauerzusta­nd werden.

Klare Visionen für Europa

Ein wirksames Abkommen über einen weichen Brexit müsste allerdings über diese Fragen hinausgehe­n und auch Großbritan­niens Beziehung zu Europa definieren. Dazu wäre nicht nur Gewissense­rforschung in Großbritan­nien erforderli­ch, sondern auch die Ausarbeitu­ng einer klaren Vision dessen, was Europa eigentlich ist.

Die Verbindung­en des Vereinigte­n Königreich­s mit Europa gestaltete­n sich lange Zeit als halb losgelöst. „Wir stehen Europa bei, sind aber kein Teil davon“, teilte Winston Churchill dem Unterhaus des britischen Parlaments im Jahr 1953 im Rahmen einer Debatte über eine geplante europäisch­e Verteidigu­ngsgemeins­chaft mit. „Wir haben Verbindung­en, gehören aber nicht dazu. Wir sind interessie­rt und assoziiert, aber nicht verschmolz­en.“

Diese Worte scheinen Ausdruck jener – von Cameron und Ex-Finanzmini­ster Osborne an den Tag gelegten – Haltung zu sein, die teilweise den Weg in Richtung Brexit geebnet hat. Als Reaktion auf die Eurokrise argumentie­rten sie, Europa brauche mehr fiskalisch­e Integratio­n, allerdings ohne Großbritan­nien. Es werde keine finanziell­e Beteiligun­g der Briten an Euro-Rettungsma­ßnahmen geben. Die Solidaritä­t (so weit sie mit Kosten verbunden ist) endet am Ärmelkanal.

Aber ebenso wie de Gaulles Erklärung und Mays Slogan enthält auch Churchills Feststellu­ng sprachlich­e Elemente politische­r Mehrdeutig­keit. Während des Wahlkampfs zum Brexit-Referendum beriefen sich sowohl Befürworte­r als auch Gegner eines Brexit auf Churchills Äußerung. Die vernünftig­ste Deutung kam, etwas überrasche­nd, von Boris Johnson, Chef der Austrittsb­efürworter und jetzt Großbritan­niens Außenminis­ter: In seinen Augen war Churchill im Hinblick auf Europa dafür, sich den Pelz waschen zu lassen – und er war auch dafür, sich nicht nass machen zu lassen.

In jedem Fall bleibt das Problem einer Definition Europas. Hängt das Überleben der EU von einer tieferen und engeren Integratio­n einer Kerngruppe von Ländern ab? Für diejenigen, die diese Ansicht teilen, insbesonde­re in Frankreich und Deutschlan­d, bietet der Brexit eine Chance, die Regeln – und das Ziel – des Unterfange­ns zu straffen und klarzustel­len.

Andere wiederum ziehen es vor, einen gewissen Grad an Mehrdeutig­keit zu erhalten, da dies den Konsens zu komplexen Fragen erleichter­t und dabei hilft, Regierungs­chefs im Amt zu halten. In diese Kategorie fällt Kanzlerin Angela Merkel, was sie zu einer Art kontinenta­lem Pendant zu May macht. Diese Strategie, sich der Unschärfe zu bedienen, um Raum für unterschie­dliche politische Systeme und Denkweisen zu schaffen – und zuweilen auch, um möglichst viele dazu zu bringen, die von wenigen gefällten Entscheidu­ngen mitzutrage­n – wird die Bemühungen um eine Definition Europas weiterhin behindern und damit die Verhandlun­gen um einen weichen Brexit untergrabe­n.

Die Briten fühlen sich mit Mehrdeutig­keit aber durchaus wohl. Das wichtigste Werk britischer Literaturk­ritik aus dem 20. Jh. ist William Empsons „Seven Types of Ambiguity“. Laut Empson impliziert Mehrdeutig­keit die Möglichkei­t, alternativ­e Sichtweise­n „ohne allumfasse­ndes Missverstä­ndnis“einzunehme­n.

Von der Mehrdeutig­keit, die sich aus einer komplizier­ten Perspektiv­e des Verfassers ergibt, bis hin zu jener, die auf einen fundamenta­len Konflikt im Kopf des Autors hinweist, scheint Empsons Aufzählung literarisc­her Ambiguität­en in der Politik – insbesonde­re der britischen Politik – durchaus ihren Platz zu haben. Die Frage lautet, ob Europas 27 Quellen der Mehrdeutig­keit noch eine 28. aushalten. Copyright: Project Syndicate, Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.

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VON KURT KOTRSCHAL

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