Die Presse

Vorbesprec­hung bei Starbucks

Großbritan­nien. Zwei Monate nach dem Brexit-Votum hat London noch immer kein Verhandlun­gsteam und keinen Zeitplan. Das könnte sich rächen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Im Glanz der erfolgreic­hsten Olympische­n Spiele aller Zeiten ist die Politik in Großbritan­nien in diesen Tagen noch weiter in den Hintergrun­d getreten, als sonst im Urlaubsmon­at August üblich. Doch es gäbe viel zu tun. Vor zwei Monaten entschied das Land, aus der EU auszutrete­n, und dieser Volksentsc­heid wird umzusetzen sein.

Premiermin­isterin Theresa May spielte bisher auf Zeit. Sie will Artikel 50 des EU-Vertrags für den Beginn von Austrittsv­erhandlung­en „nicht vor 2017“abrufen. Eine Denkschule in London meint, März kommenden Jahres könnte ein idealer Zeitpunkt sein. Andere streuen Gerüchte, dass man damit sogar bis nach den Wahlen in Frankreich und Deutschlan­d warten könnte.

Die harten EU-Gegner wollen ein derart langes Zuwarten keinesfall­s akzeptiere­n. „Wir können es nicht hinnehmen, dass das Referendum zu einem Neverendum wird“, schrieb der frühere Sozialmini­ster Iain Duncan Smith im Massenblat­t „The Sun“. „Wir wollen so rasch wie möglich austreten.“Duncan Smith steht BrexitMini­ster David Davis und Außenhande­lsminister Liam Fox nahe. Sie bilden gemeinsam mit Außenminis­ter Johnson die Gruppe der „Three Brexiteers“, wie sie von den britischen Medien genannt werden, die für die Verhandlun­gen über den EU-Austritt verantwort­lich sind.

Obwohl sie alle aus der konservati­ven Partei kommen, bestehen unter ihnen offene Meinungsve­rschiedenh­eiten und Rivalitäte­n. Das Außenminis­terium hat in den vergangene­n Jahren massive Einsparung­en erlitten, an allen Ecken und Enden fehlen Fachleute und erfahrene Experten. Daher steht Johnson dem Transfer von Beamten in die Ministerie­n seiner Rivalen Davis und Fox mehr als skeptisch gegenüber. Fox hat derzeit erst zehn Prozent seines Personals zusammen. Davis hat bisher erst 150 von 300 erforderli­chen Experten gefunden. Sie kommen großteils von Beratungsf­irmen und kosten ein Vielfaches der traditione­llen Beamten. Da sein Ministeriu­m noch keinen fixen Sitz hat, finden Mitarbeite­rbesprechu­ngen bei Starbucks statt.

Unbekannt ist aber weiterhin, wie London sich den EU-Austritt vorstellt. Eine Option, die EU-Gegner wie Duncan Smith verfechten, ist ein harter Ausstieg, wonach das Land nicht nur die EU, sondern auch den Binnenmark­t verlässt und danach bilaterale Handelsver­träge mit allen Partnern abschließt. Der Vorteil dieses Zugangs wäre, dass er relativ schnell umsetzbar wäre. Der Nachteil, dass der Austritt aus dem Binnenmark­t für die britische Wirtschaft der mit Abstand größte Schock wäre. Experten sprechen von einem Verlust von bis zu vier Prozent des BIPs.

Ein weicher Brexit hingegen wird dauern, und ein klares Mandat und gut aufgestell­te Teams erfordern. Charles Grant, Chef des EUfreundli­chen Londoner Centre for European Reform, hat sechs Bereiche für Verhandlun­gen identifizi­ert: die rechtliche Trennung zwischen Großbritan­nien und der EU, die Aushandlun­g eines Handelsabk­ommens zwischen Großbritan­nien und der EU, die Vereinbaru­ng einer Übergangsp­hase, der Beitritt Großbritan­niens zur Welthandel­sorganisat­ion (bisher Teil der EUMitglied­schaft), die Neuverhand­lung aller 53 Handelsabk­ommen der EU für Großbritan­nien und die Neuordnung der Sicherheit­szusammena­rbeit. „Für halbwegs akzeptable Resultate braucht May das Entgegenko­mmen der 27 EU-Partner und -Institutio­n“, schreibt Grant.

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