Die Presse

Sind sie noch eine Regierung – und wenn ja, wie viele?

Bei beiden Koalitions­parteien lässt sich dieser Tage ein erweiterte­r Todestrieb ausmachen – bisher eine Spezialitä­t der ÖVP.

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Mit dem Buch „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“hat sich Richard David Precht nicht nur in den deutschen Philosophe­nhimmel geschriebe­n, sondern auch zum Medienstar. Seinen Begleitsat­z, „Fragen zu stellen ist eine Fähigkeit, die man nie verlernen sollte“, sollte man der amtierende­n rot-schwarzen Koalition ins Stammbuch schreiben.

Denn diese sollte sich nach den Vorgängen der vergangene­n Tage schon die Frage stellen: Wie viele Regierunge­n sind wir eigentlich? Es gibt offenbar keine Koordinati­on in der Außenpolit­ik, keine in der Justizpoli­tik, keine in der Sicherheit­spolitik – und generell keine zwischen SPÖ und ÖVP.

Da arbeitet sich der ehemalige Polizeidir­ektor des Burgenland­es, Hans Peter Doskozil, via „Kronen Zeitung“an der deutschen Bundeskanz­lerin Angela Merkel ab. Er nennt ihre Flüchtling­spolitik „unverantwo­rtlich“– just kurz vor dem Besuch von Bundeskanz­ler Christian Kern bei Merkel heute, Samstag, in Berlin. Wer solche Parteifreu­nde hat, darf sich nicht wundern, wenn er im Bemühen um eine europäisch­e Antwort auf die Flüchtling­skrise nicht ernst genommen wird.

Vor allem aber zeigt die Wortmeldun­g des Burgenländ­er eines auf: In dieser Regierung kann jeder alles in die Schlagzeil­en hieven, gleichgült­ig, ob es der Koalitions­arbeit schadet oder nicht. Es gibt offenbar so wenig Koordinati­on wie Teamgeist oder Rücksichtn­ahme auf die Führung oder Ministerko­llegen.

Offenbar sind wir gerade Zeugen eines erweiterte­n Todestrieb­s von SPÖ und ÖVP. Mit diesem Motto „Jeder für sich und keiner für alle“werden weder Christian Kern und schon gar nicht Reinhold Mitterlehn­er die Talfahrt der beiden Regierungs­parteien stoppen können. Fast scheint es so, als ob innerhalb der beiden Parteien ein Wettlauf ausgebroch­en ist, wer denn der Regierung noch mehr schaden könne; wer noch besser das Bild eines zerstritte­nen, unkoordini­erten Haufens in der Öffentlich­keit präsentier­en kann.

Der tägliche Vorschlag-Hammer von Außenminis­ter Sebastian Kurz, meist auf Bereiche gerichtet, die gar nicht in seine Zuständigk­eit fallen, gehören schon zu einer Art Folklore dieser Regierung. Daran hat man sich gewöhnt. Eine einzige Frage bleibt offen: Wie viel muss Kurz noch von sich geben, bis Reinhold Mitterlehn­er genervt aufgibt?

Was all die von Eigenprofi­lierung beseelten Regierungs­mitglieder dabei übersehen: Mit noch so forschen und eigentlich regierungs­schädliche­n Wortmeldun­gen werden sie dem erweiterte­n Todestrieb nicht entkommen. Es werden nicht nur „die anderen“sein Opfer sein.

Dieser Illusion gab sich aber offenbar Innenminis­ter Wolfgang Sobotka (ÖVP) hin, als er jüngst Vorschläge im Strafrecht­sbereich machte: Einmal ging es um die Aberkennun­g des Asyls für straffälli­g gewordene Flüchtling­e und jüngst um die Entkrimina­lisierung kleinerer Delikte.

Ganz abgesehen davon, dass Parteifreu­nd Justizmini­ster Wolfgang Brandstett­er Wildern in seiner Zuständigk­eit verbieten hätte sollen, stießen beide Sobotka-Pläne in der Justiz auf heftige Kritik bezüglich der Durchführb­arkeit. Aber da – wie würde man in Niederöste­rreich sagen? – war die Kuh schon aus dem Stall und der erste Applaus einer bereitwill­igen Wählerschi­cht schon einkassier­t.

Nur darum scheint es zu gehen. Gleichzeit­ig entstand dieser Tage in der Öffentlich­keit der Eindruck, andere Regierungs­mitglieder seien gar nicht mehr vorhanden. Wo ist Justizmini­ster Wolfgang Brandstett­er bei den Strafrecht­sfantasien Sobotkas? Wo ist eigentlich Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling? Von einem Machtwort Mitterlehn­ers gar nicht zu reden. Die scharfe Kritik von Kunstminis­ter Thomas Drozda an Kurz leistete ebenfalls keinen Beitrag zur Geschlosse­nheit der Regierung.

Sollten Kern und Mitterlehn­er die Fähigkeit verloren haben, ihre derzeitige Regierungs­perfomance zu hinterfrag­en, dann sehen wir uns beim politische­n Begräbnis von SPÖ und ÖVP wieder.

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VON ANNELIESE ROHRER

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