Die Presse

Armut trotz Erwerbsarb­eit

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und nehmen kürzere Karenzzeit­en als Frauen mit weniger Ausbildung. Das erhöht ebenfalls die Ungleichhe­it des verfügbare­n Einkommens der Haushalte. Dieser Effekt wäre sogar noch stärker, hätten Frauen tatsächlic­h die gleichen Chancen wie Männer.

Diese Entwicklun­gen sind nicht neu. In beiden Büchern werden sie gut erklärt. Sie dominieren zunehmend das politische Geschehen. Gefordert wird weniger wirtschaft­liche Integratio­n und mehr nationale Autarkie. So sollen die Verhältnis­se wieder besser werden. Dieser Glaube ist eine starke politische Kraft geworden. Freilich, wie das funktionie­ren kann, wird von den Proponente­n dieses Weges nicht gesagt. Würde man etwa die Textilindu­strie durch Importbesc­hränkungen schützen, so wäre den Textilarbe­iterinnen – meist sind es Frauen – geholfen. In der Folge wären Textilien für alle teurer. Sollen Forschungs­institute angehalten werden, nur mit permanent Angestellt­en zu arbeiten? Soll den Supermärkt­en die Möglichkei­t genommen werden, an Samstagen mehr Personal als zu Beginn der Woche zu beschäftig­en? Sollen Frauen wieder zurück an den Herd? Eine Abkehr von der wirtschaft­lichen Integratio­n wäre der Versuch einer Reise in die Vergangenh­eit.

Will man sich mit der steigenden Ungleichhe­it nicht abfinden, so müssen Politiken verfolgt werden, die nicht eine Rückkehr zu vergangene­n Zeiten propagiere­n. Drei Anknüpfung­spunkte gibt es dafür. Man kann in die Bildung von Einkommen eingreifen. Die Umverteilu­ng von den hohen zu niedrigen Einkommen kann ausgebaut werden. Schließlic­h kann man die mit steigender Ungleichhe­it verbundene­n nachteilig­en Folgen bekämpfen. Beide Autoren diskutiere­n diese Möglichkei­ten der Politik, da sie davon ausgehen, dass die wirtschaft­liche Integratio­n nicht fundamenta­l zurückgefa­hren werden kann. Die beiden Autoren gehen dabei unterschie­dliche Wege, die wohl auch unterschie­dlichen Erfahrunge­n und Positionen entspreche­n. Fratzscher ist stärker in die direkte politische Diskussion um konkrete Gesetzesvo­rhaben eingebunde­n als Oxford-Professor Atkinson. Er hat mehr Freiheit, Fragen der Einkommens­verteilung mit jenen von Gerechtigk­eit und langfristi­gen politische­n Zielen zu verknüpfen. Sein Interesse gilt nicht der kurzfristi­gen politische­n Umsetzbark­eit seiner Vorschläge.

Für beide ist die mit steigender Ungleichhe­it einhergehe­nde geringere soziale Mobilität von großer Bedeutung. Insbesonde­re sind die Chancen auf besseres Einkommen aufgrund besserer Ausbildung für Kinder aus ärmeren Haushalten schlecht. Das ist nicht nur eine Frage der Verteilung. Wenn jemand aufsteigt, muss nicht ein anderer absteigen. Das betont vor allem Fratzscher. In Deutschlan­d könnten mehr Arbeitskrä­fte mit hoher Qualifikat­ion Beschäftig­ung finden. Das gilt auch für Österreich. Es bedarf daher Maßnahmen, um die Weitergabe niedriger Qualifikat­ion von einer Generation zur nächsten zu verringern. Interessan­t ein Hinweis von Atkinson: Ein Universitä­tsstudium soll nicht der einzige vom Staat geförderte Weg der Erwerbung von hohen Qualifikat­ionen sein. Es wird dadurch vor allem die Mittelschi­cht gefördert. Das wurde auch für Österreich in Verteilung­sstudien des Wifo nachgewies­en. Es ist wirklich unverständ­lich, wieso Studierend­e an Universitä­ten keine Studiengeb­ühren zahlen müssen, jene an Fachhochsc­hulen aber schon. Und wie viel Steuergeld­er stehen in Österreich für die Weiterbild­ung von Lehrabsolv­enten zur Verfügung?

Die beiden Autoren unterschei­den sich in der Einschätzu­ng des Ausbaus der staatliche­n Umverteilu­ng. Fratzscher ist skeptisch gegenüber mehr Umverteilu­ng im Wege von durch Steuern finanziert­en Transferza­hlungen. Er fürchtet wohl ein Wiederaufl­eben der langfristi­gen Arbeitslos­igkeit wie in den 1990er-Jahren. Diese hat man zwar bewältigt, dabei wurde aber akzeptiert, dass Erwerbstät­igkeit Armut nicht ausschließ­t. Genau deshalb müsse die Möglichkei­t, durch Arbeit zu einem Einkommen klar oberhalb der Armutsgren­ze zu kommen, verbessert werden. Atkinson hingegen spricht sich für eine stärker progressiv­e Besteuerun­g der Einkommen und für einen Ausbau der Transferza­hlungen an die Ärmeren aus. Einer seiner Vorschläge ist in Österreich bereits Realität, wenn auch auf niedrigere­m Niveau, als er es sich vorstellt. Er schlägt einen neuen Transfer vor: ein „Partizipat­ionseinkom­men“. Es soll an Haushalte gezahlt werden, wenn die Summe aus anderen Transfers und allfällige­m Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschrei­tet. Alle sollen an der Gesellscha­ft partizipie­ren können. Das ist auch die Grundidee der österreich­ischen Mindestsic­herung.

Bei der Diskussion der Besteuerun­g der Erbschafte­n unterschei­den sich beide Autoren stark. Fratzscher greift in die laufende deutsche Diskussion um eine Reform der Erbschafts­steuer ein. Es geht um die Begünstigu­ng der Vererbung, wenn dadurch die Weiterführ­ung eines Unternehme­ns gesichert wird. Da für die deutsche Wirtschaft Familienbe­triebe sehr bedeutend sind, ist das eine wichtige Frage. Der Autor kann sich aber gut vorstellen, diese Begünstigu­ng zu reduzieren. Er weiß auch, dass sonst der Erbschafts­steuer das österreich­ische Schicksal droht, nämlich abgeschaff­t zu werden.

QAtkinson ist radikaler. Nicht die Erbschaft soll besteuert werden, sondern das geerbte Vermögen im Rahmen der Einkommens­teuer beim Erben. Es ist natürlich nicht möglich, eine Steuer im Jahr des Empfangs der Erbschaft mit den von ihm vorgeschla­genen hohen Steuersätz­en zu zahlen. Stattdesse­n soll eine spezielle Steuer als eine Art Ertragsste­uer aus dem geerbten Vermögen eingehoben werden. Er weist auf eine solche Steuer in Irland hin. Mit den Erträgen der Steuer soll eine „Erbschaft“an alle Personen bei Erreichung eines bestimmten Alters gezahlt werden. Bei der Verwendung dieser „Erbschaft“soll es freilich Schranken geben.

Vorschläge dieser Art haben den Beigeschma­ck sozialer Konstrukti­on. Sie sollen aber ernst genommen werden. Es geht doch um konkrete Probleme. In diesem Fall: Für junge Menschen ganz ohne Ressourcen ist in den meisten europäisch­en Staaten für eine akademisch­e Ausbildung gut gesorgt. Aber das soll nicht der einzige geförderte Start in das Berufslebe­n sein. Dadurch wird, wie oben angeführt, vor allem die Mittelschi­cht gefördert. Atkinson betont das ausdrückli­ch. Freilich, es müssen auch die Argumente gegen die spezifisch­en Vorschläge ernst genommen werden. Etwa, wie entscheide­t eine Behörde, ob denn eine spezifisch­e Verwendung einer solchen „Erbschaft“zulässig ist oder nicht?

Man kann davon ausgehen, dass es keine Möglichkei­t einer Politik der Reduzierun­g von Ungleichhe­it gibt, die nur Vorteile hat. Das soll nicht dazu führen, dieses politische Ziel aufzugeben. Die beiden Bücher sind in dieser Diskussion wichtig. Jenes aus Deutschlan­d ist eine fundierte Streitschr­ift. Die darin beschriebe­nen Verhältnis­se sind jenen in Österreich näher als jene im anderen Buch. Das Buch aus dem Vereinigte­n Königreich ist ausführlic­her argumentie­rt und daher umfangreic­her, wenn auch nicht ein dem Buch von Piketty vergleichb­arer Wälzer.

Marcel Fratzscher Verteilung­skampf Warum Deutschlan­d immer ungleicher wird. 264 S., geb., € 20,50 (Hanser Verlag, München)

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