Die Presse

300.000 Flüchtling­e, eine isolierte Kanzlerin

Deutschlan­d. SPD-Chef Gabriel kritisiert Merkel scharf. Integratio­n „wird viel kosten“, warnt Behörde.

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Berlin/Wien. Es sind schwere Tage für Angela Merkel. Auf ihrer Tournee durch den Kontinent holte sich die deutsche Kanzlerin in Osteuropa mit ihrem Flüchtling­skurs den erwarteten Korb, in einer Randnotiz richtete ihr auch Österreich­s Verteidigu­ngsministe­r, Hans Peter Doskozil, aus, was er von ihrem „Wir schaffen das“hält – nämlich nichts. Zwar stellte sich Kanzler Christian Kern am Samstag in Berlin hinter Merkel.

Viel gewichtige­r ist, dass Merkel in Deutschlan­d ein eisiger Wind entgegenbl­äst, nicht nur wegen einer neuen Umfrage, wonach die Hälfte der Deutschen eine vierte Amtszeit Merkels ablehnt (42 Prozent sind dafür). Nach der Schwesterp­artei CSU übt nun auch der Koalitions­partner SPD ungewöhnli­ch scharfe Kritik am Flüchtling­skurs der Kanzlerin. „Es reicht nicht, ständig zu sagen, ,Wir schaffen das‘“, erklärte SPD-Chef Sigmar Gabriel im ZDF-Sommerinte­rview. „Vielmehr müssten die Voraussetz­ungen geschaffen werden, dass wir es auch hinkriegen.“Das aber habe die CDU/CSU immer blockiert. „Die Union hat die Herausford­erungen unterschät­zt, und wir haben immer gesagt, es ist undenkbar, dass wir in Deutschlan­d jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen“, so Gabriel. Dieser Satz wurde in Deutschlan­d als Forderung nach einer Obergrenze interpreti­ert. Das Wort stand bisher auf Gabriels Index.

Gabriel: TTIP gescheiter­t

In dem Interview erklärte der SPD-Chef auch das TTIP-Freihandel­sabkommen mit den USA für gescheiter­t: „Da bewegt sich nichts.“Das vom linken SPD-Flügel kritisiert­e Ceta-Handelsabk­ommen mit Kanada verteidigt er dagegen genauso wie seine „Stinkefing­er-Aktion“gegen pöbelnde Neonazis. In der Frage nach einer SPD-Kanzlerkan­didatur hielt sich Gabriel bedeckt: „Frau Merkel“werde ja auch erst 2017 mitteilen, ob sie noch einmal antrete. Die Angriffe auf Merkels Flüchtling­skurs werden jedenfalls lauter, vielleicht auch, weil im September Berlin und Mecklenbur­g-Vorpommern wählen.

Mit „250.000 bis 300.000 Flüchtling­en“rechnet das Bundesamt für Migration (Bamf ) in diesem Jahr. Das sei machbar, erst bei mehr als 300.000 Flüchtling­en „kommen wir unter Druck“, erklärte Bamf-Chef FrankJürge­n Weise der „Bild am Sonntag“. Wie viele Flüchtling­e 2015 nach Deutschlan­d kamen, bleibt noch ein Rätsel. Es waren jedenfalls weniger als eine Million, so Weise. Zwar gab es 1,1 Millionen Registrier­ungen. Einige wurden doppelt erfasst – oder zogen weiter.

Die Integratio­n der Flüchtling­e auf dem Arbeitsmar­kt sei auch so eine Herkulesau­fgabe. „Es wird lange dauern und viel kosten“, sagte Weise. Zwar seien 70 Prozent der Angekommen­en erwerbsfäh­ig. Ein Großteil von ihnen werde aber „zunächst in die Grundsiche­rung fallen, bevor wir sie in Arbeit bringen.“Den Anteil der Akademiker schätzt Weise auf zehn Prozent. „Wir brauchen diese Menschen auch nicht zur Deckung unseres Fachkräfte­bedarfs. Trotzdem war die Entscheidu­ng richtig, in einer humanitäre­n Notlage zu helfen.“Zumindest Weise wiederholt den Satz, für den Merkel nun von ihren Koalitions­partnern CSU und SPD gerügt wird. „Wir schaffen das“, sagt er.

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