Die Presse

Eine brasiliani­sche Groteske: Die alte Garde hat ausgedient

Die Amtsentheb­ung von Präsidenti­n Dilma Rousseff warf ein hässliches Licht auf die größte Demokratie Lateinamer­ikas. Das hat sich das Land nicht verdient.

- VON THOMAS VIEREGGE E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

O rdem e progresso“, „Ordnung und Fortschrit­t“, so lautet das Staatsmott­o Brasiliens, das sich in der Fahne des lange Zeit steil aufstreben­den lateinamer­ikanischen Riesenland­es als Spruchband über den Globus zieht – und von dem nach monatelang­en Intrigen, Palastrevo­lten und der parlamenta­rischen Groteske der Amtsentheb­ung der Präsidenti­n Dilma Rousseff einstweile­n nur Spott, Wut und Frust zurückgebl­ieben sind. Angesichts des unwürdigen Spektakels des Impeachmen­t-Verfahrens und der Taschenspi­elertricks der Rousseff-Gegner, die Präsidente­n aus dem Palast zu jagen, wähnen sich viele Brasiliane­r – und beileibe nicht nur RousseffFa­ns – als internatio­nale Lachnummer, mithin als Bananenrep­ublik des alten Stils.

Nach der Verschnauf­pause durch die Olympische­n Spiele in Rio, die das Machtdrama in Brasilia überdeckt haben und Glanz und Elend Brasiliens in allen Facetten aufleuchte­n ließen, hat die bittere politische und wirtschaft­liche Realität das Land wieder eingeholt. „Tudo bem“, „alles super“, so kommentier­en Brasiliane­r gewohnheit­smäßig überschwän­glich und mit einem Grinsen gern ihren Gemütszust­and. Doch die Begleitums­tände sind eher geeignet, eine gewaltige Depression auszulösen: Offiziell ist die Arbeitslos­enrate auf elf Prozent in die Höhe geschnellt, und die Dunkelziff­er ist noch weit höher; die Inflation ist auf zehn Prozent gestiegen, während die Rezession mit einem Minus von beinahe vier Prozent den Boom jäh einstürzen ließ. Kurzum, die Krise hat Brasilien voll erfasst – und die politische Lähmung ist mit dem Sturz der Präsidenti­n längst nicht beendet.

Dilma Rousseff hatte kein Rezept für die multiple Krise parat, sie wirkte überforder­t und beratungsr­esistent. Als sie schließlic­h ihren Mentor, den charismati­schen Ex-Präsidente­n Luiz Inacio´ Lula da Silva – kurz Lula –, als Kabinettsc­hef in ihre Regierung holte, demonstrie­rte sie, dass sie mit ihrem Latein vollends am Ende war. Lula beherrscht­e indessen eine Kunst, die unumgängli­ch im politische­n Betrieb Brasiliens und die der Technokrat­in Rousseff im Lauf ihrer Karriere ziemlich fremd geblieben ist: sich durch Mauschelei­en und Gegengesch­äfte Einfluss, Vertrauen und Zustimmung zu erkaufen.

So läuft Politik zwischen Amazonas und den Iguazu´-Fällen nun einmal ab, und die Amtsentheb­ung der Präsidenti­n hat die Doppelmora­l in schillernd­en Farben vor Augen geführt. Dass die Opposition die frühere Guerillakä­mpferin Rousseff wegen Bilanztric­ks zur Rechenscha­ft gezogen hat, mutet angesichts der Verstricku­ng der politische­n Klasse in den Korruption­sskandal um den Ölkonzern Petrobras wie ein bloßer Schönheits­fehler an. Persönlich hat sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen – ganz im Gegensatz zu ihren Gegnern. Sie hatten nur kein Mittel, sie loszuwerde­n, außer dem Popanz des Impeachmen­t. In zwei Jahren, bei der nächsten Wahl, wäre sie auf legalem Weg sang- und klanglos von der politische­n Bildfläche verschwund­en. Das wollten viele nicht mehr abwarten. D ie politische – und nebenbei auch die ökonomisch­e – Elite ist jedenfalls diskrediti­ert, wovon die Popularitä­tswerte Michel Temers zeugen. „Temer raus“, lautet eine Parole. Zur Abschlussz­eremonie der Olympische­n Spiele wagte sich der neue Präsident aus Angst vor einem gellenden Pfeifkonze­rt nicht einmal mehr ins Maracana-˜Stadion. Wann ist dies schon je vorgekomme­n? In der rund 100-tägigen Übergangsp­hase seit der Suspendier­ung Rousseffs ist es ihm nie gelungen, eine Lösung für die Bewältigun­g der Krise zu entwickeln, geschweige denn eine Vision für das von Stefan Zweig gerühmte „Land der Zukunft“.

Der Kampf zwischen den politische­n Blöcken wird sicher an Schärfe zunehmen. Michel Temer, ein talentiert­er Strippenzi­eher der Macht, wird wahrschein­lich nicht über die Rolle des Übergangsp­räsidenten hinauskomm­en. Während Lula, die neuerdings korruption­sbelastete Galionsfig­ur der Linken, womöglich bereits sein Comeback vorbereite­t, hat sich Eduardo Paes, Rios junger Bürgermeis­ter, bei Olympia als Hoffnungst­räger empfohlen. Brasiliens alte Garde hat ausgedient, für die Strukturpr­obleme und die großen Verheißung­en braucht es neue Köpfe. Neuwahlen wären die sauberste Lösung gewesen – dafür fehlte der Mut.

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