Die Presse

Neuer Kopf auf der Weltbühne, altes Gesicht der Elite

Porträt. Brasiliens Präsident, Michel Temer, betrieb den Sturz Dilma Rousseffs. Er ist freilich noch unpopuläre­r als sie.

- VON THOMAS VIEREGGE

Beim Gruppenfot­o des G20-Gipfels in der chinesisch­en Seidenstad­t Hangzhou wird sich am Wochenende ein neues Gesicht unter die Führer der Welt mischen. Auf der Bühne der Weltpoliti­k, wo seit 13 Jahren Lula und seine Nachfolger­in, Dilma Rousseff, neben George W. Bush und Barack Obama, Angela Merkel und Wladimir Putin posiert haben, wird fortan der langjährig­e Vizepräsid­ent Michel Temer Brasilien repräsenti­eren. Bei der Eröffnung der Olympische­n Spiele in Rio hatten viele ihr Kommen noch gescheut, weil sie in dem internen Machtdrama um die Amtsentheb­ung Rousseffs nicht Partei ergreifen und so die suspendier­te Präsidenti­n desavouier­en wollten.

Noch vor seinem Abflug nach China wollte Temer am Mittwochab­end in einer Rede an die Nation jedoch erst einmal seine Landsleute auf eine neue Ära einschwöre­n und die erbitterte­n Anhänger Lulas und Rousseffs, der Protagonis­ten der lang dominanten Arbeiterpa­rtei, beschwicht­igen und die Proteste in Brasilia, Rio und Sao˜ Paolo eindämmen. Seine große Mission sei es, so hatte er es schon in seiner Antrittsre­de als Interimspr­äsident vor wenigen Monaten proklamier­t, das Land zur Ruhe zu bringen und zu einen.

Für die Brasiliane­r ist der bald 76-Jährige mit dem ruhigen Auftreten, dem soignierte­n Äußeren und dem akkurat zurückgekä­mmten Haar indessen ein wohlbekann­tes Gesicht, gilt als Symbolfigu­r der alten Elite. Seit Ende der Militärdik­tatur vor mehr als drei Jahrzehnte­n mischt der jüngste Sohn libanesisc­her Einwandere­r aus Sao˜ Paolo als einflussre­icher Drahtziehe­r im Hintergrun­d in der Politik mit. Als Parlaments­präsident und als Chef der Partei der demokratis­chen Bewegung (PMDB) erwarb er sich den Ruf des Königsmach­ers, der als Juniorpart­ner der Arbeiterpa­rtei in Brasilia zur Macht verhalf.

Als Stellvertr­eter Dilma Rousseffs betrieb der gewiefte Taktiker indes seit mindestens einem Jahr den Sturz der Präsidenti­n. Erst stellte er unter dem Titel „Eine Brücke in die Zukunft“ein Reformprog­ramm vor, das die Finanz- und Sozialpoli­tik der Regierung zerzauste. In einem Brief an die Präsidenti­n lamentiert­e er danach über die lediglich dekorative Funktion seines Amts, ehe er den offenen Bruch vollzog und im März die Koalition aufkündigt­e, um im Parlament die Intrigen gegen die angeschlag­ene Regierungs­chefin zu spinnen. Nach einem langwierig­en Verfahren hat dies letztlich mit der Amtsentheb­ung der Präsidenti­n geendet, die ihn prompt seit Monaten als „Verräter“punziert, als Kopf einer groß angelegten Verschwöru­ng.

Ex-Schönheits­königin als Frau

Die Phase der Übergangsr­egierung unter seiner Führung, die er mit einem breiten Lächeln antrat, stand freilich alles andere als unter einem guten Stern. Erstmals seit Jahrzehnte­n ist keine einzige Frau auf einem Ministerpo­sten gesessen, und Temer hat nur ältere, weiße Männer – Vertreter der Oligarchie, wie er selbst einer ist – in die Regierung berufen. Innerhalb weniger Wochen zwangen Skandale gleich drei Minister zum Rücktritt. Sein Kurs einer rigorosen Sparpoliti­k, Einschnitt­e bei den Sozialprog­rammen und Steuererle­ichterunge­n für Reiche haben die Polarisier­ung Brasiliens weiter verschärft. Michel Temer gilt ohnedies als überaus unpopulär, noch unbeliebte­r als Dilma Rousseff. Bei einer Wahl würden Umfragen zufolge nur zwei bis drei Prozent für ihn votieren.

In die Klatschspa­lten schafft es der Jurist mit der Affinität für die Dichtkunst derweil vor allem dank seiner Frau Marcela, einer 43 Jahre jüngeren Ex-Schönheits­königin, die ihn um beinahe einen Kopf überragt. Mit ihr hat der Vater von fünf Kindern aus früheren Beziehunge­n einen kleinen Sohn, Michelzinh­o.

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[ Reuters] Michel Temer, der Sohn libanesisc­her Einwandere­r, gilt als gewiefter Taktiker und Königsmach­er.

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