Die Presse

„Wir stehen der Türkei im Wort“

Interview. Der deutsche Europa-Staatsmini­ster Michael Roth argumentie­rt, warum Berlin an den Beitrittsv­erhandlung­en mit Ankara festhält. Den neu entflammte­n Nationalis­mus in mehreren EU-Ländern verurteilt er als „politische­n Irrsinn“.

- VON WOLFGANG BÖHM

Die Presse: Sie waren in der vergangene­n Woche in der Türkei. Es gibt wegen der Aufarbeitu­ng des Putschvers­uchs Spannungen zwischen Deutschlan­d und der Türkei. Ist Ankara nicht mehr bereit, Kritik aus der EU anzunehmen? Michael Roth: Der Putschvers­uch war ein tiefer Einschnitt nicht nur in der Geschichte der Türkei, sondern auch in jener Europas. Es ist uns offenkundi­g nicht gelungen, frühzeitig ein noch stärkeres Zeichen des Mitgefühls und der Solidaritä­t auszusende­n. Das ist mir von allen Gesprächsp­artnern – ob Regierung oder Opposition – bestätigt worden. Ein bisschen mehr Empathie wäre hilfreich gewesen. Trotzdem muss auch gesagt werden: Ein Land, das zur Europäisch­en Union gehören möchte, ist zur konsequent­en Einhaltung der rechtsstaa­tlichen Prinzipien verpflicht­et.

Ist denn überhaupt noch ein Platz für die Türkei in der Europäisch­en Union? Österreich­s Bundeskanz­ler, Christian Kern, hat die Beitrittsv­erhandlung­en als „Fiktion“bezeichnet. Sind sie tatsächlic­h nur ein Mittel, um Ankara bei der Bewältigun­g der Flüchtling­skrise bei der Stange zu halten? Darüber streiten wir, seit wir Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei führen. Ich bin von der Opposition, aber insbesonde­re auch von Repräsenta­nten der Zivilgesel­lschaft in der Türkei inständig darum gebeten worden, die Beitrittsv­erhandlung­en nicht aufzukündi­gen. Man darf diese Verhandlun­gen nicht nur auf die politisch Verantwort­lichen fokussiere­n. Die Mehrheit der Türkinnen und Türken richtet ihren Blick nach Europa und will Teil unserer europäisch­en Wertegemei­nschaft werden. Diesen Menschen fühle ich mich verpflicht­et. Am Ende wird es in den Händen der Türkei selbst liegen, ob sie die strengen Kriterien einer Mitgliedsc­haft erfüllen kann oder nicht. Die EU muss sich aber auch ein Stück Kritik gefallen lassen. Zu Recht wird jetzt der Finger in die Wunden gelegt – in Fragen der Rechtsstaa­tlichkeit und der Medienfrei­heit gibt es eben in der Türkei noch viel zu tun. Aber bislang gibt es keinen Konsens in der EU, die entspreche­nden Verhandlun­gskapitel auch zu öffnen.

Es gibt freilich jedes Jahr einen Fortschrit­tsbericht zu diesen Fragen von der EU-Kommission. Im Herbst wird erneut ein sehr kritischer Bericht erwartet. Da ist zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, Verhandlun­gen zu intensivie­ren, wenn es keine Fortschrit­te gibt. Wir stehen im Wort, es ist ein ergebnisof­fener Prozess. Und ich erhoffe mir noch immer davon, dass konkrete Verhandlun­gen allemal besser als nur abstrakte Gespräche sind. Verbindlic­hkeit ist das Entscheide­nde.

Ein alternativ­er Ansatz zur Flüchtling­skrise wäre eine gemeinscha­ftliche Lösung in der EU. Doch anlässlich des Besuchs der deutschen Bundeskanz­lerin, Angela Merkel, bei den Visegrad-´Regierungs­chefs wurde deutlich, dass eine Bereitscha­ft dazu nicht ausreichen­d besteht. Scheitert die EU in dieser Frage? Wir sind schon sehr weit gekommen – etwa bei der Einsicht, dass der Schutz der EU-Außengrenz­en von allen getragen werden muss, nicht nur von jenen, die eine Außengrenz­e haben. Wenn ich sehe, wie eng wir mittlerwei­le zusammenar­beiten, um Menschenle­ben im Mittelmeer zu retten; wenn ich mir anschaue, wie weit wir gekommen sind, das Dublin-Abkommen grundlegen­d zu überarbeit­en – da kann man nicht von Scheitern sprechen. Aber es ist richtig, dass es eine Reihe von Staaten gibt, die nicht bereit sind, eine solidarisc­he und faire Aufteilung der Flüchtling­e zu akzeptiere­n. Über die Kritik am Flüchtling­sabkommen mit der Türkei kann ich nur den Kopf schütteln. Dieses Abkommen liegt sowohl im Interesse der EU als auch in jenem der Türkei. Dieses Land hat bereits drei Millionen Flüchtling­e aufgenomme­n. Solang die EU nicht bereit ist, noch mehr Menschen aufzunehme­n, halte ich die Forderung der Türken für mehr als legitim, dass die EU dabei helfen soll, die Flüchtling­e in ihrem Land besser zu versorgen. Das ist kein schmutzige­r Deal. Er dient eben auch den Flüchtling­en.

Wir erleben nicht nur in der Flüchtling­sfrage eine Rückkehr zu nationalen Lösungsans­ätzen. Diese Tendenz wurde ja auch in der Debatte zum britischen EUReferend­um deutlich. Es will mir nicht in den Kopf gehen, wie wir in einer globalisie­rten Welt mit einer Renational­isierung reüssieren wollen. Das ist ein politische­r Irrsinn. Nicht zuletzt hat die Brexit-Abstimmung gezeigt, dass Nationalis­ten und Populisten ihre Kampagnen auf Lügen, Ängsten und Halbwahrhe­iten aufbauen. Dass sie aber auch nicht dazu bereit sind, Verantwort­ung zu übernehmen. So können wir in Europa nicht zusammenar­beiten. Solidaritä­t ist keine Einbahnstr­aße, jeder profitiert davon. Deutschlan­d wird deshalb alles daransetze­n, dass Europa nicht auf diese Weise vor die Hunde geht.

Die Visegrad-´Länder (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Anm.) haben bisher in der Flüchtling­sfrage diese Solidaritä­t verweigert. Was ist in diesen Ländern geschehen? Warum sind dort nationale Kräfte so stark geworden? Ich habe Verständni­s für das eine oder andere Land, weil ich weiß: Staaten, die erst vor 25 Jahren die nationale Souveränit­ät zurückgewo­nnen haben, fällt es möglicherw­eise schwerer, ihre Rolle im europäisch­en Team zu finden. Womöglich beruht diese Zurückhalt­ung auf einem historisch­en Missverstä­ndnis: Wenn wir uns in Europa stärker einbringen, dann verlieren wir nichts, sondern im Gegenteil, wir gewinnen politische Handlungsf­ähigkeit in einer globalisie­rten Welt zurück.

 ?? [ Katharina Roßboth ] ?? Deutschlan­ds Staatsmini­ster Michael Roth (r.) am Rande des Europäisch­en Forums Alpbach.
[ Katharina Roßboth ] Deutschlan­ds Staatsmini­ster Michael Roth (r.) am Rande des Europäisch­en Forums Alpbach.

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