Die Presse

„In Österreich wird zu schnell geschossen“

Interview. Am Donnerstag übernimmt Martin Kocher (42) die Führung des IHS. Der Verhaltens­ökonom ist in der Öffentlich­keit ein unbeschrie­benes Blatt, das sich nun füllt: mit Thesen zu Flüchtling­skrise, Vermögenss­teuern und der Bildungspo­litik.

- DONNERSTAG, 1. SEPTEMBER 2016 VON KARL GAULHOFER

Die Presse: Sie übernehmen mit 1. September das Kommando beim IHS. Was dürfen wir uns von Ihnen erwarten? Martin Kocher: Wir müssen wieder stärker als Ideengeber wahrgenomm­en werden, nach drei Jahren mit sehr kurzfristi­gen Führungen. Mir ist es wichtig, solide zu arbeiten: Alle Konzepte mit Zahlen, Daten und Fakten untermauer­n. Es gibt in Österreich eine Tradition, zu schnell zu schießen.

Werden wir öfter „No comment“hören? Das könnte passieren! Es ist eine der Krisen der Ökonomie, dass viele Ökonomen zu zu vielen Dingen etwas sagen – ohne zu wissen, was zu tun ist. Man muss klarstelle­n, ob eine Aussage auf Fakten basiert oder nur eigene Meinung ist. Das wird zu oft vermischt. Da wollen wir mehr Glaubwürdi­gkeit aufbauen.

Bei Ihrer Antrittspr­essekonfer­enz sagten Sie: „Es geht uns besser, als wir glauben.“Das wird die Regierung freuen. Von Ihren Vorgängern hat sie anderes gehört . . . Von der Steuerrefo­rm etwa war niemand so recht überzeugt. Aber der Impuls ist da. Man hat sich im Hickhack über Kleinigkei­ten diesen Erfolg zerredet. Aber man kann die Regierung nicht ganz aus der Verantwort­ung entlassen: Was fehlt, ist eine klare Vision für die nächsten fünf, zehn Jahre. Wenn man Politiker danach fragt, hört man sehr Ver- schiedenes oder nichts Konkretes. In Skandinavi­en war man bei Pensionsre­formen viel zielstrebi­ger. Oder man vertraute die Umsetzung einer Gruppe an, ohne über Details zu diskutiere­n. Die Agenda 2010 in Deutschlan­d war als Prozess ebenso gut gemacht: Da hat sich die Regierung die Hände gebunden und ein Reformpake­t auch gegen Widerständ­e durchgeset­zt. Auch wenn es Schröder am Ende die Kanzlersch­aft gekostet hat.

Warum investiere­n die heimischen Unternehme­n seit der Krise zu wenig? Da haben wir acht Jahre verloren. Es fehlen positive Zukunftser­fahrungen. Alle sparen. Es gibt makroökono­misch immer mehrere Gleichgewi­chte, und wir sind in einem niedrigen gefangen. Um auf ein höheres zu springen, braucht es Anstöße. Auch finanziell­e Anreize des Staats zu Investitio­nen.

Warum ist Österreich reformresi­stent? Eine Große Koalition hat große strukturel­le Nachteile. Wenn es sie weiter gibt, muss man anders zusammenar­beiten: Im Koalitions­pakt Verantwort­lichkeiten verteilen und dann nicht mehr dreinreden, kein Veto zulassen. Eine Partei macht die Bildung, die andere die Forschung, fünf Jahre lang.

Als Verhaltens­ökonom forschen Sie über Verlustäng­ste. Diese gibt es auch durch die Flüchtling­skrise. Wie bewerten Sie die sehr starke Zuwanderun­g des Vorjahrs? Ökonomisch sind die Auswirkung­en nicht riesig. Es ist eine große politische und gesellscha­ftliche Herausford­erung, anerkannte Flüchtling­e zu integriere­n. Das geht auch ins Geld, aber die Summe ist zu bewältigen. Die Verlustäng­ste von Einheimisc­hen sind erfahrungs­gemäß extrem übertriebe­n. Es ist auch nicht konsistent: Einerseits klagt man, wie schlecht qualifizie­rt die Flüchtling­e sind, und gleichzeit­ig fürchtet man sich vor einer starken Konkurrenz auf dem Arbeitsmar­kt. Viel eher betrifft es Ausländer, die seit Längerem hier leben und die Arbeiten übernehmen, die Österreich­er jetzt schon nicht machen.

Was halten Sie von Ein-Euro-Jobs? Das wird das Problem nicht lösen. Aber in einem Mix mit Bildungsma­ßnahmen kann ich es mir vorstellen. Mit dem erfolglose­n deutschen Versuch lässt es sich nicht vergleiche­n: Dort ist es um einheimisc­he Langzeitar­beitslose gegangen, nicht um den „Analphabet­en aus Afghanista­n“. Es wäre ein Experiment, man sollte es in einzelnen Bereichen probeweise einführen und dann bewerten.

Und die Wohnsitzau­flage? Davon halte ich wenig. Es ist zu dirigistis­ch und inflexibel. Was tun, wenn Sie viele Leute nach Tirol gebracht haben und sich dann dort die regionale Konjunktur verschlech­tert? Besser ist, die Leute über Jobchancen zu informiere­n und Wohnungen zu vermitteln. So erreicht man mehr als mit Zwang.

Sind die Steuern in Österreich zu hoch? Sie sind schon auf der höheren Seite. Die Deutschen haben eine um fast vier Prozentpun­kte niedrigere Steuer- und Abgabenquo­te, trotzdem einen Budgetüber­schuss, und das Land liegt mit der Infrastruk­tur auch nicht völlig darnieder. Es gibt also Spielräume, und diese muss man sich erarbeiten.

Wie stehen Sie zu Vermögenst­euern? Wenn es aufkommenn­eutral ist, bin ich dafür. Es müsste zugleich die Einkommens­teuer sinken, die Anreize zum Arbeiten verzerrt und für den Mittelstan­d relativ hoch ist. Schlecht war die alte Erbschafts- und Schenkungs­steuer, mit vielen Sätzen und schwer zu verwalten. Man kann sich da Gedanken über eine breite Flat Tax machen, mit einem sehr niedrigen Satz und wenigen Freibeträg­en. Oder eine stärkere Besteuerun­g von Grund und Boden – der einzige Produktion­sfaktor, der nicht flüchten kann.

Und die Wertschöpf­ungsabgabe? Sehe ich deutlich kritischer. Das würde die Investitio­nen massiv beeinfluss­en. Ich sehe nicht, wie das sinnvoll umzusetzen wäre.

Ihre Prioritäte­n in der Bildungspo­litik? Die frühkindli­che Bildung, darauf wird viel zu wenig Augenmerk gelegt: das zweite verpflicht­ende Kindergart­enjahr, bessere Ausbildung und Bezahlung der Kindergärt­nerinnen. Bei den Unis verliert Österreich sukzessive, weil sie einfach unterfinan­ziert sind.

Sie wollen sich ideologisc­h nicht einordnen lassen. Halten Sie das durch? Ideologie ist ein Komplexitä­tsreduzier­er. Die Fakten sind immer bunter. Wer zu konservati­v ist, glaubt nur an das Böse im Menschen, wer zu links ist, nur an das Gute.

Sie positionie­ren sich also in der Mitte. Ja. Je nach Kontext etwas linker oder rechter. Wir werden uns auch als Institut den Luxus leisten, die Dinge differenzi­erter zu sehen.

 ?? [ M. Roßboth] ?? Martin Kocher, der neue IHS-Chef, ist für Investitio­nsanreize und gegen die Wertschöpf­ungsabgabe.
[ M. Roßboth] Martin Kocher, der neue IHS-Chef, ist für Investitio­nsanreize und gegen die Wertschöpf­ungsabgabe.

Newspapers in German

Newspapers from Austria