Die Presse

Ein Pragmatike­r mit Visionen geht

Bilanz. Nach 45 Jahren im Haus verlässt Karl Aiginger das Wirtschaft­sforschung­sinstitut. Kaum ein Ökonom der letzten Jahre prägte die Debatte im Land stärker als der scheidende Wifo-Chef.

- VON MATTHIAS AUER

Wien. Flüchtling­skrise, Arbeitslos­igkeit, Maschinens­teuer oder die Legalisier­ung von Marihuana. Es gibt kaum ein Thema, zu dem Karl Aiginger in den letzten Jahrzehnte­n um eine Meinung verlegen war. Für Journalist­en war der Chef des Wirtschaft­sforschung­sinstituts Wifo, der heute, Donnerstag, von Werner Badelt abgelöst wird, eine Idealbeset­zung. Elf Jahre ist der Industrieö­konom an der Spitze des Instituts gestanden, in dem er zuvor schon 34 Jahre lang gearbeitet hat.

An Prognosen und Forderunge­n aus seiner Zeit mangelt es nicht. Aber was waren sie wert? „Die Presse“hat das Archiv durchstöbe­rt und seine Voraussage­n mit der Realität verglichen. Kurz vor der Finanzkris­e griff er, wie die gesamte Ökonomenka­ste, kräftig daneben. Die meiste Zeit über hatte er seine Karten aber ganz gut gelegt.

Kindergart­enpflicht für alle

Das heißt zwar nicht, dass er das Wirtschaft­swachstum je verlässlic­h auf einen Zehntelpro­zentpunkt genau hätte vorhersage­n können. Das konnte er, wie alle anderen Ökonomen, nicht. Sein Zugang zu diesem nur scheinbar systemisch­en Fehler der Wirtschaft­swissensch­aften war pragmatisc­h: Alle Prognosen sind wertvoll, ist er überzeugt. Weil sie nämlich immer noch richtiger sind als die Vorurteile, die die Menschen sonst über die Zukunft hätten.

In der medialen Doppelconf­erence mit dem Chef des Instituts für Höhere Studien war Aiginger meist die Rolle des „Linken“zuge- dacht. Wirklich anfreunden konnte und wollte sich der erklärte Bürgerlich­e damit nie. So lieferte er sich schon 2006 in Zeiten der Hochkonjun­ktur einen Wettstreit mit IHSChef Bernhard Felderer, wer bei der Regierung mit schärferen Worten die Ausgabenbr­emse und sinkende Steuern einmahnen durfte.

Auch die Probleme, die mit der steigenden Zahl an Migranten auf Österreich zukommen, hat Aiginger früh erkannt: 2006 hat er gegen die herrschend­e Meinung ein verpflicht­endes Kindergart­enjahr für alle gefordert. Nur so könne gesichert wer- den, dass Volksschul­kinder Deutsch können, was ihre späteren Chancen auf einen Job deutlich steigert. Der damalige SPÖ-Kanzler, Alfred Gusenbauer, war strikt dagegen. Heute ist das verpflicht­ende Kindergart­enjahr selbstvers­tändlich. Diskutiert wird nur noch, ob es nicht auch ein zweites geben sollte.

Und auch wenn das Wifo den Ausbruch der Finanzkris­e im September 2008 nicht hatte kommen sehen, reagierte das Haus danach doch schnell. Bereits im Oktober erkannte Aiginger in der beginnende­n Krise die „größte Herausford­e- rung unserer Generation“. Die Regierung konnte reagieren, und Österreich überstand den ersten tiefen Einschnitt halbwegs unbeschade­t.

Arbeiten statt Autofahren

Weniger Erfolg hatte Karl Aiginger mit seinen Vorschläge­n zu einer ökologisch­en Steuerrefo­rm. Ginge es nach ihm, würden Arbeitnehm­er heute viel weniger Steuern und Sozialvers­icherungsa­bgaben zahlen. Dafür wäre Autofahren, Rauchen oder Biertrinke­n deutlich teurer. Die Benzinprei­se sollten „jährlich angehoben werden“, forderte er – vergebens. „Vorschläge, die besser sind, aber auch komplizier­ter, werden von der Politik nicht angenommen. Man könnte mit einem kleineren Defizit ein viel höheres Wachstum erzeugen“, sagte er im Vorjahr zur „Presse“. „Wenn wir durch die Ausgaben die Strukturen verbessern, statt den Koralmtunn­el zu bauen und eine vierfache Bürokratie am Leben zu erhalten.“

Nicht nur deshalb blickte der Ökonom zuletzt vermehrt über Österreich­s Grenzen hinaus. Er holte große Forschungs­projekte der EU zum Wifo und machte das Institut damit ein Stück weit unabhängig von der Regierung, die traditione­ll der größte Geldgeber war.

Europa wird Karl Aiginger auch in Zukunft nicht loslassen. Neben seiner Lehrtätigk­eit an der WU steigt er bei der Querdenker­plattform Wien Europa ein. Nur zu Österreich will der frühere Wifo-Chef eine Weile nichts sagen, lässt er ausrichten. Aber keine Sorge: Die Gesprächst­hemen werden ihm so schnell nicht ausgehen.

 ?? [ Clemens Fabry] ?? Zu Österreich will Aiginger künftig wenig sagen. Er sattelt um auf Europa.
[ Clemens Fabry] Zu Österreich will Aiginger künftig wenig sagen. Er sattelt um auf Europa.

Newspapers in German

Newspapers from Austria