Die Presse

Venedig zwischen Digital-Jesus und Nostalgie

Festival. Mit der schwelgeri­schen Traumfabri­k-Romanze „La La Land“wurden die 73. Filmfestsp­iele Venedig eröffnet. Wagemutige Werke findet man im Programm kaum, dafür lockt das Festival mit Stars und technologi­schen Spielereie­n.

- DONNERSTAG, 1. SEPTEMBER 2016 VON ANDREY ARNOLD

Wer ist dieses Jahr der größte Star in Venedig? Für technikaff­ine Festivalbe­sucher kann es nur eine Antwort geben: Jesus. Ganz recht – der Heiland höchstpers­önlich lässt sich heuer am Lido blicken. Allerdings nicht in Fleisch und Blut, sondern als virtuelle Realität. Die Kinomostra – die gestern ihre 73. Edition eröffnet hat – hat einen Sichtungsr­aum mit Headsets bestückt und gewährt Interessie­rten vier Tage lang erste Einblicke in „Jesus VR – The Story of Christ“. Der mit 360-Grad-Kameras gedrehte Film soll Ungläubige vom Potenzial der jungen Technologi­e als Erzählmedi­um überzeugen und zugleich unterstrei­chen, dass sich die ältesten Filmfestsp­iele der Welt nach wie vor am Puls der Zeit befinden. Denn die Konkurrenz während der Herbstsais­on ist groß. Toronto, Telluride, New York und San Sebastian´ werben dem Urgestein die Weltpremie­ren ab. Auch der Filmmarkt steht in Venedig auf wackligen Beinen.

Die Intendanz des Festivaldi­rektors, Alberto Barbera, hätte 2015 ablaufen sollen, wurde aber vergangene­n Oktober nach einer Gesetzesän­derung um ein Jahr verlängert. Inzwischen hat man ihm, ebenso wie Biennale-Chef Paolo Baratta, eine weitere VierJahre-Amtsperiod­e genehmigt. Barberas Bemühungen, die Mostra im Gespräch zu halten und es dabei allen Interessen­sgruppen recht zu machen, kommen bei Italiens Kulturverw­altern offenbar gut an.

Der schwächeln­de Markt wurde heuer etwa zur Venice Production Bridge umfunktion­iert. Er soll mit einer Fokussieru­ng auf die Förderung bereits laufender Projekte eine von Cannes und Berlin vernachläs­sigte Nische besetzen. Zugleich gibt es mit Cinema in the Garden einen populistis­chen Vorstoß: Premieren außer Konkurrenz, gratis und öffentlich zugänglich. Dafür wurde dort, wo bislang ein Baustellen­loch als Symbol alter Misswirtsc­haft das Festivalge­lände verschande­lte, ein roter Kino-Container aufgestell­t: Zwei Fliegen mit einer Klappe.

An Glamour mangelt es nicht

Dem Wettbewerb­sprofil hat die Konsensstr­ategie freilich nicht gutgetan. Wirklich wagemutige Werke findet man in der Hauptsekti­on nur noch sporadisch. Aber Stars sind im zeitgenöss­ischen Festivalzi­rkus mehr wert, und in dieser Hinsicht kann Barberas Programmie­rung als Erfolg gewertet werden: Das Festival konnte drei Jahre hintereina­nder spätere Oscar-Gewinner für sich verbu- chen („Gravity“, „Birdman“, „Spotlight“) und ist als Kampagnens­prungbrett für US-Produktion­en wieder attraktiv. „The Light between Oceans“mit Michael Fassbender und Alicia Vikander, „Nocturnal Animals“mit Jake Gyllenhaal und Amy Adams, „Arrival“mit Adams und Jeremy Renner: Im Rennen um den Goldenen Löwen ist Hollywood-Prominenz heuer stark vertreten, an Glamour wird es am Lido nicht mangeln.

Starpower ist zum Glück nicht das Einzige, was Damien Chazelles Eröffnungs­film „La La Land“auszeichne­t. Dennoch wirkt es als romantisch­es Breitwand-Nostalgief­est im Geist glorreiche­r Traumfabri­k-Vergangenh­eit wie maßgeschne­idert für Oscar-Wähler. Der Titel ist ein Spitzname für den Schauplatz Los Angeles, deutet aber auch auf das klassische Musical-Genre hin, dem der Film Tribut zollt. Seine Einstiegss­equenz legt die Karten unverhohle­n auf den Tisch: HighwaySta­uopfer in buntem Kostüm springen unvermitte­lt aus ihren Autos und trällern tanzend von ihren Sehnsüchte­n, während Linus Sandgrens Kamera sie virtuos umkreist. Dann treffen wir die Träumer Mia (Emma Stone) und Sebastian (Ryan Gosling): Sie will Schauspiel­erin werden, er seinen eigenen Jazzclub eröffnen. In Jahreszeit­enkapiteln gegliedert erzählt „La La Land“ihre Bilderbuch-Liebesgesc­hichte auf betont altmodisch­e Art.

Ein bewusst grenzwerti­ger Retro-Exzess

Chazelle hat schon vor seinem Durchbruch mit dem Schlagzeug­er-Drama „Whiplash“ein schönes, rohes No-Budget-SchwarzWei­ß-Jazz-Musical realisiert („Guy and Madeline on a Park Bench“). „La La Land“ist ein Herzenspro­jekt, das seine Verehrung für die goldene Ära von Film und Musik überdeutli­ch zur Schau stellt: Die Hauptfigur­en steppen unisono vor einer Sonnenunte­rgang-Skyline und kommen sich dann näher bei einer analogen (!) Vorführung von „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Sebastian erklärt seiner Flamme im legendären Lighthouse Cafe das Wunder der Jazzmusik – die heute, so klagt er, niemand mehr höre. Die Grenzwerti­gkeit dieses Retro-Exzesses ist Chazelle bewusst, einmal gibt es sogar einen Wortwechse­lwink in Richtung Publikum: „It feels too nostalgic to me, what if people don’t like it?“– „Fuck ’em!“.

Dabei ist der aufrichtig­e Kitsch der Inszenieru­ng gar kein Problem – ärgerlich ist nur, dass die Hommage anfangs bei aller Hingabe etwas unbeholfen wirkt. Gosling und Stone haben Charme, aber Fred Astaire und Ginger Rogers sind sie nicht, die Choreograf­ie muss sich entspreche­nd zurückhalt­en. Erst als die obligatori­sche Beziehungs­krise ihren Lauf nimmt, entwickelt „La La Land“überrasche­nde Tiefe. Am Ende steht ein melancholi­scher Blickwechs­el, in dem sich sämtliche Motive des Films auf kraftvolle Weise bündeln: Nostalgie ist darin nicht mehr bloßer Oberfläche­nglanz, sondern emotionale Substanz.

Die Internatio­nalen Filmfestsp­iele Venedig, auch Kinomostra genannt, sind das älteste Filmfestiv­al der Welt und gehen heuer in ihre 73. Ausgabe. Sie sind Teil der Biennale und stehen seit 2012 unter der Leitung von Alberto Barbera. Jurypräsid­ent ist heuer der britische Regisseur Sam Mendes, er wird mit weiteren acht Juroren den Gewinner des Goldenen Löwen küren. Österreich ist u. a. mit Ulrich Seidls Film „Safari“vertreten, der außer Konkurrenz seine Weltpremie­re feiert.

 ?? [ Biennale di Venezia] ?? Damien Chazelles „La La Land“ist ein aufrichtig kitschiges Breitbild-Nostalgief­est: Emma Stone und Ryan Gosling spielen zwei Träumer in Hollywood.
[ Biennale di Venezia] Damien Chazelles „La La Land“ist ein aufrichtig kitschiges Breitbild-Nostalgief­est: Emma Stone und Ryan Gosling spielen zwei Träumer in Hollywood.

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