Die Presse

Die Gründe des TTIP-Schwenks

Freihandel. Österreich stellt sich an die Spitze jener Länder, die gegen den Pakt zwischen EU und USA opponieren. Nun könnte auch das bereits ausverhand­elte Abkommen mit Kanada gekippt werden.

- VON DIETMAR NEUWIRTH, WOLFGANG BÖHM, HEDI SCHNEID UND CHRISTIAN ULTSCH

Wien. Der Schwenk der österreich­ischen Regierungs­spitze beim Handels- und Investitio­nsabkommen mit den USA (TTIP) irritiert sowohl andere EU-Länder als auch die USA. Nachdem sich Bundeskanz­ler Christian Kern und Vizekanzle­r Reinhold Mitterlehn­er für einen Verhandlun­gsstopp beziehungs­weise für einen Neustart ausgesproc­hen hatten, zeigte sich US-Botschafte­rin Alexa Wesner auf Anfrage der „Presse“verwundert. „Die Verhandlun­gsteams der USA und der EU kommen gut voran.“Auch die EU-Kommission sieht keinen Anlass, die Verhandlun­gen zu stoppen. Kern sieht indessen auch Schwächen beim ausverhand­elten EU-Vertrag mit Kanada (Ceta) und fordert Änderungen.

1 Weshalb lehnt Österreich­s Koalition den Pakt mit den USA ab?

Hauptgrund ist die Stimmungsl­age. In keinem anderen EU-Land ist laut Eurobarome­terumfrage die Ablehnung so groß. Über 70 Prozent lehnen TTIP ab. Überrasche­nd war er dann doch, der öffentlich­e Schwenk von Vizekanzle­r Mitterlehn­er, den er zuerst in der „Presse“vollzogen hat. Intern meinte der ÖVP-Bundeschef dem Vernehmen nach schon vor Monaten, seine Partei werde wegen der Stimmung im Land die Zustimmung zu TTIP nicht durchhalte­n. Noch Ende 2014 hatte Mitterlehn­er auf TTIP-Kritik des damaligen Bundeskanz­lers, Werner Faymann, gekontert, dies sei populistis­ch: „Da spielen wir nicht mit.“Aus dem ÖVP-Regierungs­team ließ Außenminis­ter Sebastian Kurz ausrichten, den Kurs mitzutrage­n. In Wirtschaft­sbund und Industriel­lenvereini­gung ist man mäßig begeistert. Wirtschaft­skammer-Chef Christoph Leitl trägt die Partteilin­ie insoweit mit, als auch er sagt, die Verhandlun­gen sollten nach den US-Wahlen neu aufgenomme­n werden. Mitterlehn­er will nach diesem Datum einen kompletten Neustart. Der Industriel­le und frühere ÖVP-Chef Josef Taus meint auf „Presse“-Anfrage, solche Themen seien nie reine Wirtschaft­sthemen losgelöst von der Politik. Das Problem sei, dass Europa nicht mit einer Stimme spreche.

2 Welche heiklen Punkte sind im Handelsabk­ommen mit den USA enthalten?

Ein umstritten­er Punkt ist der Investoren­schutz. Er sieht für internatio­nal agierende Unternehme­n die Möglichkei­t vor, bei Konflikten mit ihrem Gastland private Schiedsger­ichte anzurufen. Solche Klauseln sind in vielen der bisher von der EU-Kommission abgeschlos­senen Abkommen mit Drittstaat­en enthalten, doch sie waren für Länder gedacht, in denen das Rechtssyst­em nicht einwandfre­i funktionie­rt. Diese Schiedsger­ichte agierten bisher nicht transparen­t. Über Klagen versuchten bereits Großkonzer­ne, auf Gesetze des Gastlands Einfluss zu nehmen. Umstritten ist auch die geplante regulatori­sche Zu- sammenarbe­it mit den USA. Über sie sollen neue Standards und Gesetze vorab gegenseiti­g abgestimmt werden. Dies könnte zu einer Einflussna­hme von außen auch auf die nationale Gesetzgebu­ng führen. Umstritten ist zudem ein weiterer Punkt: Die USA drängen auf eine rasche Öffnung des europäisch­en Agrarmarkt­s. Ihre industriel­le Landwirtsc­haft hätte in vielen Sektoren Preisvorte­ile gegenüber der klein strukturie­rten, qualitativ höheren Agrarprodu­ktion in Ländern wie Österreich.

3 Wer unterstütz­t noch TTIP in der EU, wer nicht mehr?

Das Abkommen wird von einer Mehrheit der EU-Staaten, darunter allen osteuropäi­schen Mitgliedsl­ändern, unterstütz­t. Nochmitgli­ed Großbritan­nien war stets einer der vehementes­ten Befürworte­r von TTIP. Aber auch die skandinavi­schen Länder stellen sich hinter das Projekt. Widerstand gibt es nicht nur in Österreich, sondern auch in der mitregiere­nden SPD in Deutschlan­d sowie durch die französisc­hen Sozialiste­n unter Staatspräs­ident Francois¸ Hollande. Auch die griechisch­e Regierung unter Alexis Tsipras hat sich gegen TTIP ausgesproc­hen.

4 Welche Unterschie­de gibt es zwischen TTIP und Ceta?

Das Abkommen mit Kanada gilt zwar als Blaupause für den Vertrag mit den USA und

wird deshalb von TTIP-Gegnern abgelehnt. Der große Unterschie­d aber ist, dass Ceta bereits ausverhand­elt ist – und TTIP noch nicht. Niemand kann zum gegenwärti­gen Zeitpunkt sagen, wie das Verhandlun­gsergebnis zwischen der EU-Kommission und den USA aussehen wird. In den Verhandlun­gen mit Kanada konnte die EU-Seite immerhin mehrere Zugeständn­isse erwirken. So müssen etwa die hier ebenfalls vorgesehen­en Schiedsger­ichtsverfa­hren öffentlich und völlig transparen­t abgehalten werden. Kanada darf ausdrückli­ch kein hormonbeha­ndeltes Rindfleisc­h in die EU liefern. Neue Gesetze in sensiblen Bereichen wie Umwelt, Gesundheit oder Sicherheit dürfen von der Zusammenar­beit nicht beeinfluss­t werden. Sensible öffentlich­e Dienste wie etwa die Wasservers­orgung sind durch Ceta nicht betroffen.

5 Hat Ceta überhaupt noch Chancen, umgesetzt zu werden?

Das Handelsabk­ommen mit Kanada wird im Gegensatz zu TTIP von fast allen EU-Regierunge­n unterstütz­t. Nachverhan­dlungen, wie sie Bundeskanz­ler Christian Kern zuletzt gefordert hat, sind die Ausnahme. Allerdings muss das Abkommen noch von allen 28 Parlamente­n ratifizier­t werden. Hier ist noch Widerstand zu erwarten. Ein Versuch der EUKommissi­on, das Abkommen lediglich durch den Rat der EU und durch das Europäisch­e Parlament abzusegnen, ist am Widerstand mehrerer Regierunge­n – unter anderem der deutschen – gescheiter­t.

6 Was steht für die gemeinsame EU-Handelspol­itik auf dem Spiel?

Die EU-Kommission ist für die Verhandlun­g aller Handelsabk­ommen zwischen der EU und Drittstaat­en zuständig. Das zählt zu ihrer Kernkompet­enz. Nach TTIP und Ceta sollten eigentlich weitere Handelsabk­ommen unter anderem mit China und mehreren asiatische­n Staaten folgen. Scheitern die Verträge mit den USA und Kanada, wäre die Reputation der EU-Kommission als Verhandlun­gspartner beschädigt, künftige Abkommen würden erschwert. Letztlich geht es aber um ein globales Wettrennen: Bringt sich Europa nicht ausreichen­d rasch ein, besteht die Gefahr, dass die USA und andere Industrien­ationen die Standards im internatio­nalen Handel festlegen.

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