Die Presse

Russische Leaks?

Politik und Propaganda. Julian Assanges Enthüllung­splattform veröffentl­icht immer öfter Dinge, die Wladimir Putin nutzen. Offenbarun­gen russischer Missetaten hingegen werden verschwieg­en.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Die Enthüllung­splattform von Julian Assange veröffentl­icht immer öfter Unterlagen, die Putin nutzen.

Washington. Vor acht Jahren popularisi­erte Edward Lucas, der MoskauKorr­espondent des Magazins „The Economist“, in einem Essay eine zentrale Technik der sowjetisch­en Propaganda gegenüber dem Westen. „Whatabouti­sm“, abgeleitet von der englischen Frage „What about?“, also „Was ist mit?“, diente der UdSSR seit Beginn des Kalten Krieges bis zum politische­n Tauwetter unter ihrem letzten Generalsek­retär, Michail Gorbatscho­w, als schärfste Waffe zur Abwehr westlicher Kritik am Totalitari­smus des „real existieren­den Sozialismu­s“.

Die Funktionsw­eise war stets dieselbe: Wenn westliche Politiker, allen voran amerikanis­che, einen Menschenre­chtsversto­ß der Sowjets kritisiert­en, schossen die Propagandi­sten des Kreml mit einer Gegenfrage nach der Diskrimini­erung der Afroamerik­aner, der Unterstütz­ung von Coups durch die CIA oder ähnlichen Abgründen der US-Politik zurück.

Sieben Jahrzehnte später und ein Vierteljah­rhundert nach dem Zerfall der UdSSR ist Whatabouti­sm in Moskau wieder en vogue. Und einer der wirksamste­n Kanäle für den Einsatz dieses propagandi­stischen Werkzeugs gegen Washington, die Nato, die Europäisch­e Union und jegliche sonstige westliche Kritik an der totalitäre­n Kontrolle Russlands unter dem früheren KGB-Spion Wladimir Putin ist WikiLeaks – jene digitale Enthüllung­splattform, die sich noch vor ein paar Jahren das Ziel gesetzt hatte, undemokrat­ische Regierunge­n wie jene von Putin durch die Offenlegun­g vertraulic­her Dokumente unter Druck zu setzen. „Unsere Hauptziele sind jene höchst unterdrück­erischen Regime in China, Russland und Zentralasi­en“, sagte Julian Assange bei der Vorstellun­g von WikiLeaks im Jahr 2006.

Die Gerassimow-Doktrin

Davon war im Jahrzehnt seither so gut wie nichts zu sehen. Vielmehr ist WikiLeaks unter Assanges zusehends antiamerik­anischer Gesinnung heute zu einem hilfreiche­n Mittel in der Umsetzung jener Vorhaben geworden, die Waleri Gerassimow, Generalsta­bschef der russischen Streitkräf­te, im Februar 2013 in einem Thesenpapi­er so formuliert hat: „Die Rolle nicht militärisc­her Mittel bei der Erreichung politische­r und strategisc­her Ziele ist gewachsen, und in vielen Fällen haben sie in ihrer Wirksamkei­t die Durchschla­gskraft von Waffen übertroffe­n.“

Wenn Informatio­n (oder ihre Verfälschu­ng) zur Waffe wird, liefert WikiLeaks immer öfter eine exzellente publizisti­sche Abschussba­sis. Ein konkretes Beispiel, das die „New York Times“am Donnerstag in einer weitreiche­nden Analyse hervorhob: Von November 2013 bis zum heurigen Mai veröffentl­ichte WikiLeaks Dokumente, welche einen Einblick in die vertraulic­h geführten Verhandlun­gen über zwei Handelsabk­ommen gewährten, nämlich das transpazif­ische Abkommen TPP der USA mit einem Dutzend Staaten sowie Tisa, das Abkommen über den Handel mit Dienstleis­tungen, an dem die USA, die EU sowie 21 weitere Staaten arbeiten.

Russland ist an diesen Verhandlun­gen nicht beteiligt und kritisiert sie vehement. Die WikiLeaks-Enthüllung­en über interne Verhandlun­gsposition­en der USDiplomat­en kamen stets zu heiklen Momenten der multilater­alen Gespräche an den Tag. Sie fachten die Empörung von Globalisie­rungsgegne­rn an und erzeugten den Ein- druck, hier wolle das amerikanis­che Imperium sich im Alleingang seine eigenen Handelsreg­eln schreiben. TPP wurde zwar trotzdem fertig verhandelt, doch sein Inkrafttre­ten hängt von der Zustimmung des zusehends kritischen US-Senates ab.

Panama-Papers-Kompromat

Für Erstaunen und Bestürzung sorgte heuer der Versuch von Assange und WikiLeaks, die Enthüllung­en des Internatio­nal Consortium of Investigat­ive Journalist­s über die globale Steuerhint­erziehung in Panama zu schädigen. Denn die Panama-Papers enthüllten unter anderem, dass der Cellist und Putin-Freund Sergej Roldugin Milliarden­beträge in panamaisch­en Briefkaste­nfirmen kontrollie­rt. Sofort darauf kritisiert­e WikiLeaks das Journalist­enkonsorti­um dafür, Geld von der Soros-Stiftung und der US-Entwicklun­gshilfebeh­örde USAID zu erhalten. Bei einer Journalist­enkonferen­z in Italien platzte dem russischen Investigat­ivreporter Andrej Soldatow der Kragen: „Viele Journalist­en der ,Nowaja Gazeta‘ wurden ermordet, und jetzt wird ihre Glaubwürdi­gkeit von WikiLeaks angegriffe­n?“

Auch dieses Mittel, den Ruf eines Kritikers zu schädigen, fand man schon im Köcher der Sowjetprop­agandisten, und es hatte einen klingenden Namen: Kompromat.

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