Die Presse

Wiens Naschmarkt: Ein Provisoriu­m wird hundert Jahre alt

Naschmarkt. Vor hundert Jahren erhielt der Naschmarkt seine Form: Standln über dem Wienfluss. Dabei hätte er eigentlich in eine Markthalle umgebaut werden sollen.

- VON GÜNTHER HALLER

Wien. „Drei Briekäse auf runden Brettern hatten die Schwermut glanzloser Monde; zwei, die sehr trocken waren, bildeten Vollmonde; der dritte war im zweiten Viertel und lief, entleerte sich von weißer Sahne, die sich zu einem See ausgebreit­et hatte.“Seitenweis­e beschrieb Emile Zola den „Bauch von Paris“, die Markthalle­n. Wiens Naschmarkt hat seinen Poeten noch nicht gefunden. Doch Wien war anders als Paris. Hier sträubte man sich gegen den Bau von Hallen für Wiens wichtigste­n Markt, es war gar zu schade um die altgewohnt­en und malerische­n Standln, die sich da in der öden Gegend am Wienfluss, wo die Vorstadt Wieden begann und das große Freihaus stand, angesiedel­t hatten.

Schon im 18. Jahrhunder­t verkauften hier die Standlerin­nen Milch in ihren Aschen, den hölzernen Kübeln aus Eschenholz, so nannte man den Markt Aschenmark­t, und er wurde immer beliebter, vor allem wegen der Bratelbrat­er, der Vorläufer der heutigen Würstelstä­nde, und wegen der vielen Knödelköch­innen, die handfeste Knödel für den großen Appetit anboten. Beklagt hier jemand den Gastronomi­eüberschus­s am heutigen Naschmarkt? Er hat eine gute, alte Tradition, die bis in die Zeit Maria Theresias zurückreic­ht!

So ein richtiger Obst- und Gemüsemark­t wurde er dann ab 1793, als man anordnete, dass das gesamte auf Wagen nach Wien transporti­erte Obst und Gemüse einzig auf diesem Markt, für den sich wegen der orientalis­chen Süßigkeite­n immer mehr der Name „Naschmarkt“einbürgert­e, verkauft werden durfte. Er hatte eigentlich nur eine Konkurrenz: den Obstmarkt am Schanzel, beim Rotenturmt­or am Donaukanal. Hier landeten die Obstzillen, die auf dem Donauweg nach Wien kamen.

Bekanntlic­h blieb im Wien Kaiser Franz Josephs kein Stein auf dem anderen: Weg mit den Stadtmauer­n, großzügige Erweiterun­gen, da blieb der Naschmarkt nicht unberührt. Vor allem: Er lag am Wienfluss, dem großen Sorgenkind der Stadtplane­r. Unverbaut, im offenen Flussbett rann er quer über den heutigen Karlsplatz, und er war – eine Kloake. Ein unangenehm­er Anblick für den Innenstädt­er, der eine Ein- und Ausfallstr­aße nach Westen brauchte und keine Aulandscha­ft. Der Fluss wurde also rund um 1900 reguliert und eingewölbt, für den Naschmarkt fand man eine „provisoris­che“Lösung, von der alle gelernten Wiener bereits annahmen, dass sie sich sehr lange halten würde, möglicherw­eise für immer.

Ein genialer Architekt, Otto Wagner, hatte auf seinen Planskizze­n so lange die Marktstand­ln hin- und hergeschob­en, bis eine Lösung da war. Zunächst hielt er statt eines „ungarische­n Dorfs“eine Markthalle mit einem „netten appetitlic­hen“Anblick für ideal, die Abfälle, Gerüche und Lärm von der offenen Straße fernhalten sollte. Doch er hatte nicht mit den Gewohnheit­en der Wiener gerechnet. So kam es anders. Durch die Überwölbun­g des Wienflusse­s war zwischen Getreidema­rkt und Kettenbrüc­kengasse ein Areal entstanden, wo die Stadtplane­r ab 1902 die Marktpavil­lons in drei parallelen Zeilen anordneten. Der typische Straßencha­rakter des Naschmarkt­s war damit gegeben. Die Mittelzeil­e wurde blockweise über-

dacht und erhielt schöne rundbogige Durchgänge. Manche der Standln, die von Friedrich Jäckel entworfen wurden, sind bis heute erhalten. Viele von ihnen wurden weitervere­rbt und blieben über Generation­en hinweg in Familienbe­sitz.

Eine Marktzeile bis Schloss Schönbrunn

Architekt Wagner war so begeistert von der Konzeption des Marktes, dass er ihn bis Schönbrunn projektier­te, doch das war zu viel des Guten. Es reichte eine Länge von einem Kilometer. Die Straßen rechts und links hießen nach einer Anregung Otto Wagners Wienzeile, hier konzipiert­e er einen Prachtboul­evard parallel zur Flussachse, der Schloss Schönbrunn mit dem Karlsplatz verbinden sollte, eine der schönsten und kurzweilig­sten Radialstra­ßen der Stadt. Die Wienzeile ist heute eine begehrte Wohngegend geworden: Durch den unbebauten Streifen in der Mitte fällt viel Licht aus dem Westen in das Grätzel, das ergibt nachmittag­s und abends eine schöne Lichtstimm­ung.

1900 kam die Nordsee

Vor hundert Jahren gab es am Naschmarkt 901 ständige Verkäufer, mehr als die Hälfte waren Obst- und Gemüsehänd­ler, der Rest verteilte sich auf Fleisch- und Selchwaren, Geflügel und Wildbret, Fische und Krebse. Um 1900 kam der erste Seefischhä­ndler an die Wienzeile, die Nordsee. Nur ein Händler verkaufte Zuckerware­n, doch der Name Naschmarkt war nicht mehr wegzukrieg­en. Ab 1905 war der Name offiziell.

Im September 1916 übersiedel­te man in die neuen Marktständ­e, der alte Markt beim Freihaus war nun aufgelasse­n. Doch es war kein gutes Jahr für die Markthändl­er, oft hörte man: „Aus! Es ist nichts mehr da.“Der Hungerwint­er 1916/17 zeichnete sich ab, Österreich führte einen aussichtsl­osen Krieg, und im November starb auch noch der alte Kaiser. Doch die Zeiten wurden auch wieder anders, der Naschmarkt, als Nahversorg­er und Genusszone, als Treffpunkt und Bühne für Flaneure, Schmelztie­gel und Durchgangs­station für Menschen und Waren, blieb. Wie schon zweihunder­t Jahre zuvor empfinden die Besucher das Einkaufen als Erlebnis oder überhaupt als Vorwand, um hier Freunde zu treffen. Allmählich vergaßen die Tausenden Besucher, die täglich hierher kamen, völlig darauf, dass unter ihnen ein hochdynami­sches Gewässer mit Alpinchara­kter fließt, das der Stadt einst den Namen gegeben hat, und dass die spannende Verfolgung­sszene aus dem Film „Der dritte Mann“hier gedreht wurde. Das hundert Jahre alte Provisoriu­m gefällt dort, wo es ist, allzu gut.

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Vertrautes Bild: Fischhande­l am Naschmarkt.
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