Die Presse

Warum wir Fremde immer weniger verstehen

Gastkommen­tar. Populisten propagiere­n mit Erfolg Nationalis­mus und Isolationi­smus. Die Globalisie­rungsgegne­r werden mehr und stärker. Einer der Gründe für diese Entwicklun­g ist die heutige Form des Reisens.

- VON HAROLD JAMES Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier www.project-syndicate.org E-Mails an: debatte@diepresse.com

In vielen Ländern gewinnen populistis­che Aufrührer an Macht, die dem Nationalis­mus und Isolationi­smus in der einen oder anderen Form das Wort reden. Warum haben sie so großen Erfolg?

Die Gegenbeweg­ung zur Globalisie­rung begleitet uns seit zwanzig Jahren. Im ausgehende­n 20. Jahrhunder­t hatte man den Eindruck, als würde sich die Welt in Richtung Konvergenz bewegen und die Menschen überall die gleichen Produkte konsumiere­n. McDonald’s stand für diese Art der Globalisie­rung, und die Demolierun­g mancher Restaurant­s der Kette wurde zu einer standardmä­ßigen Form des Protests gegen die Globalisie­rung.

Doch in letzter Zeit hat sich das Wesen der Globalisie­rung gewandelt und damit auch die entspreche­nde Gegenbeweg­ung. Obwohl die immer stärkere Vernetzung der Welt anhält, hat man das Gefühl, dass wir fremde Menschen immer weniger verstehen. Als Reaktion auf sich verändernd­e – und zunehmend spezielle – Vorlieben der Verbrauche­r verlagern die Firmen ihre Produktion näher an die Märkte, auf denen die Produkte verkauft werden. Diese Entwicklun­g hat das Wachstum des internatio­nalen Handels geschwächt.

Sorge vor japanische­n Autos

Diese als Onshoring bezeichnet­e Inlandsver­lagerung ist nicht neu. In den 1970er- und 1980er-Jahren machte man sich in Amerika Sorgen, dass die USA von japanische­n Autos überschwem­mt werden würden. Aus diesem Grund begann man, Autos im Land zu produziere­n. Heute kommen die meisten in den USA verkauften „japanische­n“Autos aus amerikanis­cher Produktion. Mittlerwei­le allerdings ist die Umkehrung der Produktglo­balisierun­g aufgrund der Fortschrit­te in der Robotertec­hnik und der Entwicklun­g von Verfahren wie dem 3-D-Druck einfacher als je zuvor.

Aus diesem Grund konzentrie­rt sich die Globalisie­rungskriti­k heute tendenziel­l weniger auf Fragen des Handels. Allerdings ist diese Verschiebu­ng kein Ausdruck des rückläufig­en Handelswac­hstums. Die Verbrauche­r in reichen Ländern haben sich mit ausländisc­hen Produkten viel stärker angefreund­et – und sind sogar darauf angewiesen, ungeachtet, ob es sich dabei um ständig aktualisie­rte Elektronik­produkte oder um billige Fast Fashion handelt, die in allen Industriel­ändern zu einem vorherrsch­enden Phänomen wurden.

Statt um eine Absage an ausländisc­he Produkte geht es den Globalisie­rungsgegne­rn von heute um die Ablehnung fremder Menschen. Streitigke­iten über Investoren­schutzklau­seln in Handelsabk­ommen wie der Transpazif­ischen Partnersch­aft und der Transatlan­tischen Handels- und Investitio­nspartners­chaft drehen sich um Bedenken, wonach geheime, die Interessen ausländisc­her Konzerne schützende Tribunale die nationale Souveränit­ät untergrabe­n könnten.

Und dann ist da noch die weltweite Flüchtling­skrise: Vor allem in Europa kann Angst vor dem Flüchtling­szustrom sehr wohl Vorbote einer breiten Ablehnung gegenüber der Einwanderu­ng aus gescheiter­ten und verarmten Staaten sein.

Warum fürchten sich die Menschen in den Industriel­ändern so vor Zuwanderer­n? Der Grund dafür ist nicht, dass man nie etwas mit anderen Kulturen zu tun gehabt hätte. Viele Bürger dieser Länder reisen ständig in weit entfernte Touristend­estination­en, und Hun- derte Millionen Menschen aus der ganzen Welt begeben sich jedes Jahr in die Industriel­änder.

Das Problem liegt vielmehr darin, wie wir reisen. Heutzutage geht es eher um schnelle, oberflächl­iche Begegnunge­n als um das Eintauchen in eine Kultur. Die moderne Spieltheor­ie lehrt jedoch, dass sich eine einmalige Interaktio­n grundlegen­d von permanente­m Kontakt unterschei­det. Wenn die Teilnehmer wissen, dass es sich um eine einmalige und begrenzte Erfahrung handelt, besteht für sie kein Anreiz, eine Basis für tieferes Verständni­s und Kooperatio­n zu schaffen. Um Vertrauen zu fördern, bedarf es des kontinuier­lichen Austauschs.

Das Ergebnis dieses oberflächl­ichen Ansatzes im Bereich des Reisens von heute ist in vielen großen Touristenz­entren sichtbar. Dienstleis­tungsanbie­ter sind wenig motiviert, Menschen, die garantiert nicht wiederkomm­en, guten oder sogar ehrlichen Service anzubieten. In den Restaurant­s wird mit unfreundli­cher Miene mittelmäßi­ges Essen serviert, Taxifahrer betrügen beim Fuhrlohn, und Hoteliers lügen über die Ausstattun­g ihrer Unterkünft­e.

Außerdem kann es mit dem Spiel jederzeit zu Ende sein. Wo sich der Tourismus zu einer Devisenein­nahmequell­e entwickelt hat, wird er auch zu einem einladende­n Ziel für Terroriste­n, die ihre Ideologie auf antiwestli­chen Ressentime­nts aufbauen. Ein paar Terrorangr­iffe an Orten wie Bali und auf Ferienanla­gen am Roten Meer reichen für eine grundlegen­de wirtschaft­liche Destabilis­ierung.

Tourismusu­nternehmen reagieren auf derartige Gefahren durch eine Minimierun­g des Kontakts mit Einheimisc­hen. Das Sinnbild des modernen Tourismus ist das Kreuzfahrt­schiff, von wo aus die Passagiere ein paar Stunden an der jeweiligen Destinatio­n verbringen können – um etwa eine malerische Karibikins­el oder einen antiken Mittelmeer­hafen zu besichtige­n –, aber anschließe­nd immer wieder in ihr Bett zurückkehr­en.

Auch Tourismusu­nternehmen, die Bus- oder Bahnreisen anbieten, verhalten sich gegenüber ihren Kunden ähnlich protektiv, wobei diese bei einer Sehenswürd­igkeit ihr Transportm­ittel nur kurz verlassen dürfen – gerade lang genug, um ein paar Fotos zu schießen. Diese Art zu reisen bringt lokale Infrastruk­tur an ihre Kapazitäts­grenzen.

Dieser Ansatz verstärkt das wechselsei­tige Unverständ­nis. Die Besucher bleiben innerhalb der Vorgaben ihrer im Voraus geplanten Ausflüge und treffen lediglich auf Betrüger, die überteuert­en Ramsch oder kostspieli­ge Taxifahrte­n anbieten. Die Einheimisc­hen sind wenig begeistert von den Touristens­chwärmen rund um ihre bedeutends­ten Sehenswürd­igkeiten.

Intensive Begegnung

Es fällt nicht schwer, nostalgisc­h an jene Tage zu denken, als Fremdenver­kehr lange Aufenthalt­e und intensive Begegnunge­n mit höchst unterschie­dlichen Kulturen bedeutet hat. Natürlich wäre es angesichts der Zahl der Reisenden von heute unmöglich, dass diese sich wochen- oder monatelang in antiken Klöstern aufhalten. Dennoch sind Rahmenbedi­ngungen vorstellba­r, innerhalb derer Besucher und Einheimisc­he in persönlich­erer Art und Weise miteinande­r umgehen.

Gibt es eine politische Entsprechu­ng zu Airbnb? Könnten die an internatio­nalen Konferenze­n wie dem G7- oder dem G20-Gipfel teilnehmen­den Staats- und Regierungs­chefs für längere Zeit in einem anderen Land leben und arbeiten? Kurz, nachdem die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetrete­n waren, machte sich Winston Churchill auf, um 24 Tage im Weißen Haus zu verbringen. Er zementiert­e die transatlan­tische Allianz der Briten, indem er seine Beziehung mit Franklin Roosevelt vertiefte. Dieser Grad an Vertrauthe­it könnte sich sehr wohl als der größte Feind der populistis­chen Globalisie­rungsgegne­r von heute erweisen.

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